Buchkritik

Esther Kinsky – Weiter sehen

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Eine Reisegeschichte in die ungarische Tiefebene. Eine Reflexion über das Sehen als Willensakt. Und die unglaubliche Geschichte eines Kinokaufs. Esther Kinsky hat mit „Weiter Sehen“ einen so sinnlichen wie klugen Romanessay über einen bedrohten Kulturort geschrieben.

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So beruhigend ein Blick in die Ferne sein kann, wer lange genug aufs Meer schaut oder versucht, in einer flachen Landschaft immer weiter zu sehen, um zu erkennen, wo sich der Horizont befinden könnte, wird vermutlich schon bald über die eingeschränkten Möglichkeiten der menschlichen Sehkraft und die Grenzen des eigenen, auch geistigen Horizonts nachdenken. Das kann dann durchaus beunruhigend oder auch sehr anregend sein, wie Esther Kinsky in ihrem Buch „Weiter Sehen“ auf sinnlich-kluge Weise beschreibt: Im winterlichen Norwegen traf die Erzählerin, von der wir annehmen können, es handele sich um die Schriftstellerin Kinsky, eine redselige Frau, die „vor dem Krieg in ihrer jugoslawischen Heimat geflohen war“. Die beiden saßen auf einer Bank und schauten gemeinsam in einen dunklen Fjord, als die Unbekannte von einer Landschaft ganz ohne Hügel zu erzählen begann.   

„Man stieg auf einen Kürbis und konnte so weit sehen. Immer weiter sehen.“

Diese „märchenhaft anmutende Flachheit“ scheint Esther Kinsky nicht mehr aus dem Kopf gegangen zu sein, weil das Sehen und Erkennen im geographischen, kulturellen und historisch-politischen Raum ohnehin ein wichtiges Thema der Autorin ist. Also fuhr Kinsky – vermutlich kurz nach dem Jahrtausendwechsel – in die Pannonische Tiefebene, ein staubiges Grenzgebiet, das sich über viele Länder erstreckt, nämlich Ungarn, Österreich, die Slowakei, Slowenien, Rumänien, Serbien, Kroatien und die Ukraine.

Von Budapest kommend, erkundete die Erzählerin das Alföld, wie der Teil der Tiefebene auf ungarischer Seite heißt. Kinsky beschreibt die Gegend als „Landschaft der Leere“, deren Natur so eintönig wie eindrucksvoll ist. In einer heruntergekommenen Ortschaft suchte die Reisende, die auch leidenschaftliche Fotografin ist, nach neuen Bildmotiven, die eben nicht nur von der Leere erzählen, und stand plötzlich, als wäre es eine märchenhafte Fügung, vor einem „großen, olivgrünen Gebäude“, das …

… „aus den fünfziger Jahren stammen musste und auf dem in einem kühnen Schriftzug groß stand: Mozi. Kino. (…) Es sah riesig aus für den kleinen Ort. Ein Prachtkino in einem Niemandsland der Möglichkeiten.“

Esther Kinsky hat viele Details des Gebäudes fotografiert, die auf den ersten Blick tatsächlich nicht zum ländlichen Standort des Kinos passen. Die in dem Band abgedruckten Bilder, die so dokumentarisch wie surreal wirken, visualisieren dabei eine erstaunliche Geschichte, in deren Mittelpunkt die Erzählerin selbst steht. Mozi ist die ungarische Kurzform für Mozgokép, was wörtlich mit „bewegte Bilder“ zu übersetzen ist. „Ein verlockend fremdes Wort“, heißt es bei Kinsky, und die Autorin ließ sich tatsächlich locken, von der Flora und Fauna der Tiefebene genauso wie von jenem verwitterten Lichtspielhaus in einer „Gegend der Abwesenheiten“.

Die Gedanken der Ich-Erzählerin beschleunigen sich in diesen Passagen des Buchs, schweifen von erntereifen Mohnfeldern zu Straßen, die erst zum Horizont und dann direkt in den Vorführraum des Mozi führen. Man spürt in diesen Zeilen eine nahezu rauschhafte Sehnsucht, in diesem „Mangelland“ ein kleines Kinowunder zu inszenieren. Man fühlt sich an Werner Herzogs Filmklassiker „Fitzcarraldo“ und der exzentrischen Hauptfigur erinnert, die im Dschungel ein Opernhaus bauen will. Tatsächlich kaufte Esther Kinsky das alte Kino, nicht ohne sich nächtelang zu fragen, …

„…was meine Verantwortung als Herrin über ein Kino war, und gab mir selbst die Antwort, dass es nur die Wiedererweckung zu einem Raum des gemeinsamen Sehen sein konnte.“

Bevor aber Filmrollen bestellt werden konnten, musste renoviert, aufgeräumt und vor allem auch der Projektor wieder instandgesetzt werden. Immer mehr Menschen aus dem Dorf halfen der Kinoretterin. Kinsky erzählt die bewegenden und manchmal auch verstörenden Lebenswege der Leute, die an ihrem visionären und vielleicht auch naiven Plan mitwirken. Da gibt es einen dauerbetrunkenen Gitarrenspieler, der unbedingt zur Eröffnung auftreten will. Oder Józsi, der über zwanzig Jahre lang im Kino als Vorführer gearbeitet hat und sich an den Internationalen Filmtag erinnert, immer dienstags, als in der ungarischen Provinz Streifen von Kurosawa, Truffaut und Fassbinder gezeigt wurden. Jetzt repariert der Mann „Fahrräder, Nähmaschinen und Computer“ und schwärmt von seinem Mentor namens Deutsch László, genannt Laci, der einst mit einem Wanderkino umherzog und dann die Kulturfunktionäre aus Budapest überzeugte, ein Mozi auf dem Lande zu bauen.

Kinsky widmet dem Kinogründer ein eigenes Zwischenkapitel, und spätestens bei der Lektüre dieser berührenden Geschichte eines Idealisten stellt sich die Frage, ob die Autorin alles erfunden hat. Jedenfalls wirkt der Text, der als Reisegeschichte und Reflexion über das Sehen begann, längst wie ein märchenhafter Kinoroman mit einem großartigen Figurenensemble. So genau die Schriftstellerin die Natur zu beschreiben weiß, so liebevoll-präzise nähert sie sich ihren Charakteren. Kinskys literarisches Nachdenken über die Fähigkeit, im Kino weiter sehen zu können, als es der Alltag ermöglicht, entwickelt sich schließlich zu einer Schule des einfühlsamen, radikalrealistischen und auch utopischen Schreibens. Der Plan, in der ungarischen Einöde ein Kino zu etablieren, scheitert auf bittere und hochsymbolische Weise. Es kommen zu wenige Paare, um im Schutz der Dunkelheit zu knutschen, und wer einen Spielfilm anschauen möchte, sitzt lieber vor der heimischen Mattscheibe.

„Das Kino war immer ein Ort, an den man die eigenen Einsamkeiten trug, doch früher trug man sie dorthin im Bewusstsein, unter anderen Einsamkeitsträgern Platz zu nehmen, legte filmhungrig den Weg ins Kino zurück und filmsatt den Rückweg, streifte die Welt draußen. Man war nicht sein eigener Vorführer, sondern ergab sich dem Strahl des Projektors, der von fremder Hand betätigt war. Man erlebte, erfuhr, tauchte ein, ohne auch nur einen Handgriff für die Vorstellung auszuführen oder zu veranlassen. Man überließ sich dem Ort, um zu sehen.“

Das im wahrsten Sinne des Wortes nachdenkliche Buch ist als Abgesang auf eine Kulturtechnik zu lesen, die das 20. Jahrhundert über die Grenzen hinweg geprägt hat. Im Kino, das sich einem Weitersehen verschrieben hat, kam eben zusammen, was anderswo getrennt war, etwa durch nationale oder ethnisch-religiöse Schranken. Die Erzählerin besuchte auch die zahlreichen Friedhöfe in dem Mozi-Dorf, einen für die ungarische Gemeinde, einen jüdischen, einen serbischen und einen rumänischen.

Sechzehn Jahre nach ihrem Kinoabenteuer kommt Kinsky zurück. Die meisten Friedhöfe sind verwildert, was darauf schließen lässt, dass es in diesem Ort nicht einmal mehr ein Nebeneinander der verschiedenen Kulturen gibt. Das Kino ist nur noch eine Ruine. Der Mozi-Schriftzug ist verschwunden. Die Sessel sind aus der Verankerung gerissen. Hier wird niemand mehr irgendwohin sehen. Der Autorin bleibt noch die Aufgabe, für den Kulturverlust die angemessenen Worte zu finden. Was ihr in berückend schöner Sprache gelingt. Esther Kinsky hat ein Meisterwerk der Melancholie geschrieben. 

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Carsten Otte