Buchkritik

Anja Kampmann – der hund ist immer hungrig

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Naturzerstörung und emotionale Verwüstung sind das Thema von Anja Kampmanns Lyrik, deren formale Mittel so reduziert wie eingängig sind. Insgesamt liest sich der Band wie eine poetische Wehklage über die monströsen Sündenfälle der Menschheit.

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Anja Kampmann, Shootingstar der neueren deutschen Literatur

Die 1983 in Hamburg geborene Schriftstellerin Anja Kampmann gehört zu den Shootingsstars der neueren deutschen Literatur. Nach einem Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig erhielt sie zahlreiche Förderpreise.

2016 erschien ihr Gedichtband „Proben von Stein und Licht“, zwei Jahre später erschien ihr Debütroman „Wie hoch die Wasser steigen“, ein Liebesdrama, das auch von widrigen Arbeitsbedingungen auf einer Ölplattform handelt.

Das Buch gehörte zu den Überraschungserfolgen 2018 und wurde unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet. In englischer Übersetzung stand der Roman unter den Finalisten für den National Book Award 2020.

Das lyrische Ich blickt auf die eigene Vergangenheit zurück

Der erste Zyklus im neuen Lyrikband von Anja Kampmann trägt den passenden Titel „hinter der scheune“. In den siebzehn Gedichten schaut das lyrische Ich mit einer Mischung aus Sehnsucht, Verwunderung und Abscheu auf Jugendzeiten in der norddeutschen Provinz.

„ohne umschweife“, „marschland“ und „mittelstufe“ heißen die kurzen Stücke, die Landschaft und Gesellschaft ins Verhältnis setzen und dabei oft Missverhältnisse benennen, klar und deutlich, ohne artifiziellen Dekor, „ohne umschweife“ eben.

in meiner klasse sitzt der sohn des schweinebauern
es saßen andere söhne. viele hatten acker, rüben
eine schwäche fürs feuerlöschen, oder schreckschuss
dennoch die apfelbäume blühten
die nächte noch kühl
(Anja Kampmann: der hund ist immer hungrig)

Worte sind bei Kampmann nicht unschuldig

Oft windet es in den Zeilen, rau aber ist nicht nur das Klima an der Küste, sondern auch der Umgang untereinander. Manche Mädchen treffen sich mit den Söhnen der Schweinebauern, andere bleiben Zaungast, und zwar physisch wie sprachlich.

im stroh hinter der scheune. von küssen
war die rede aber die rede
schloss keinen von uns ein
(Anja Kampmann: der hund ist immer hungrig)

Dass Worte eben nicht unschuldig sind, wie Schimpf und Schande auf die Seele wirken, wie aus Tiraden auch Taten entstehen, all dies ist Thema in diesem eindrücklichen Gedichtzyklus.

was sie am meisten erstaunte
die bilder blieben so lang
zwölferschar mädchen die ihr
hinterherläuft: nutte
die bilder blieben so lang
dass sie den dick von torben aus der
zehn nahm durch seinen hosenschlitz
fast lautlos im gebüsch
(Anja Kampmann: der hund ist immer hungrig)

Die umfangreichen Anmerkungen erläutern historische Bezüge

Kampmann ist eine politische Dichterin. Der Schulhofhorror kommt bei ihr nicht aus dem gesellschaftlichen Nichts, sondern hat eine Vorgeschichte. So erstaunt es nicht, dass in besagtem Zyklus auch die Geschichte vom Hamburger NS-Gauleiter Karl Kaufmann verarbeitet ist, von dem es lange hieß, er sei ein „gute Nazi“ gewesen – auch weil er ein Rotwild-Gehege anlegte, das noch heute existiert.

Dabei ließ Kaufmann die ersten Konzentrationslager errichten und bat Hitler immer wieder, „Juden deportieren zu dürfen“. Über diesen Hintergrund zum Gedicht „duvenstedter brook“ erfahren wir in einem umfangreichen Anmerkungsapparat, der äußerst hilfreich ist, wenn historische, politische und naturwissenschaftliche Bezüge nicht auf den ersten Blick erkennbar sind.

Der informative Anhang entwickelt ein Eigenleben

Ohnehin entwickeln die Informationen im Anhang ein merkwürdiges Eigenleben. Statt zu den Gedichten zurückzublättern, scheint es manchmal interessanter zu sein, der Spur der „Storys“ zu folgen.

Gerade ging es noch um einen Schachcomputer, dann ums Fracking und schließlich würde man doch gerne wissen, was es mit den geklonten Zollhunden auf sich hat, die wohl am Flughafen in Seoul eingesetzt werden.

Der poetische Mehrwert gegenüber der Recherche fällt gering aus

Solche Neugier führt ins Internet, und es stellt sich die Frage, wann die Lyrik wieder dran ist und wie sich das Angelesene auf die Wahrnehmung der Gedichte auswirkt. Die Rezeption ist gewiss nicht zu verallgemeinern, doch bisweilen ist der poetische Mehrwert gegenüber der politisch-historischen Recherche nur marginal.

Zum Gedicht „Wiepersdorf“ heißt es beispielsweise in den Anmerkungen:

„Auf Schloss Wiepersdorf, dem ehem. Landsitz der Familie von Arnim, trafen sich während der DDR-Zeit Intellektuelle und Künstler, die vom Staat dorthin eingeladen wurden. Anwohner berichten von Hundestaffeln, die das Schloss bei Nacht bewachten.“
(Anja Kampmann: der hund ist immer hungrig)

Die Lyrik stochert im Nebel

Die Lyrik nimmt den historischen Sachverhalt auf, benennt eine bekannte Dichterin und stochert im doppeltem Nebel.

ich weiß im nebel gab es schäferhunde
ums schloss eilte ihr schatten
und drinnen saßen kirsch konsorten
ein paar auch mit zigarre. Sagten
trecker statt tanks sagten solche sachen
im nebel im nebel lief ein schatten.
(Anja Kampmann: der hund ist immer hungrig)

Schwer zu sagen, ob es die Lust an der Alliteration war, die Anja Kampmann bewog, die Dichterkollegin Sarah Kirsch mit „Konsorten“ zusammenhocken zu lassen. Aber so richtig erhellend sind diesen Zeilen nicht.

Die stilistischen Mittel in der Lyrik Kampmanns sind reduziert

In einem Fledermaus-Gedicht hingegen „funktioniert“ der Übergang besser, weil er kreativer gestaltet ist. Dass Windkraftanlagen stark schwankende Luftdruckverhältnisse erzeugen und damit die Blutgefäße der sensiblen Flugtiere reißen lassen, liest sich in der poetischen Version auch als kulturhistorische Beerdigung:

lag nur so da
mickey. batman.
namenlos in sich
im rauschen jener welle
die von innen kam durch das gewebe
schlug dich nahm dich begrub rätsel
(Anja Kampmann: der hund ist immer hungrig)

So reduziert die stilistischen Mittel in Kampmanns Lyrik, so kraftvoll die poetische Wehklage.

Die Sünden der Menschheit stehen im Fokus

Zuweilen wirkt der Gedichtband wie ein Sündenregister der Menschheit: Naturzerstörung, Kriege wie der in der Ukraine und die unterschiedlichsten Genmanipulationen sind wiederkehrende Themen.

Vorneweg steht ein Gedicht über das Zeitalter der Pest. „hungrig strich der schwarze atem übers land“ heißt die wohl markanteste Zeile darin, die auch an die aktuelle Pandemie denken lässt.

Das abschließende Gedicht beinhaltet eine Sorge um die Welt

Die verstörende Gleichzeitigkeit persönlicher Empfindungen, lebensweltlicher Dekadenz und welthistorischer Entwicklung wird dann im abschließenden Gedicht noch einmal aufgegriffen, in dem das lyrische Ich zwar eine „neue zartheit“ zu erkennen glaubt, aber mit großen sorgen um „die welt jene unsere“ in die nächtliche Finsternis schaut.

ich schreibe ein liebesgedicht
und die frequenzen verschwimmen
ein helikopter landet
vor dem trüffelrestaurant
während junge wissenschaftler verzweifeln
(Anja Kampmann: der hund ist immer hungrig)

Stand
AUTOR/IN
Carsten Otte