Defensive Architektur: Spikes auf einer Oberfläche verhindern, dass Obdachlose sich niederlassen (Foto: picture-alliance / Reportdienste, Photoshot )

Beton statt bequem

Defensive Architektur: Wie ein Baustil Obdachlose aus der Stadt verdrängt

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AUTOR/IN
Lydia Huckebrink
Lydia Huckebrink, Autorin SWR Kultur (Foto: SWR, Foto: Lydia Huckebrink)

Am 11. September ist der Tag der Wohnungslosen. Ein einzelner Tag, der auf die Probleme der Menschen aufmerksam machen soll, die auf der Straße leben. Gleichzeitig lassen sich Städeplaner einiges einfallen, um Obdachlose aus der Stadt zu verdrängen. Dafür gibt es einen Fachbegriff: defensive Architektur. Ein Baustil, der darauf abzielt, dass Menschen ihren Aufenthalt an öffentlichen Orten so kurz wie möglich gestalten.

Sitzbank in der U-Bahnstation Schadowstrasse, Düsseldorf (Foto: picture-alliance / Reportdienste,  Norbert Schmidt)
Günstig, sauber, unbequem: Diese Sitzbank lädt nicht zum Verweilen ein.

Alles so unbequem hier

An Bahnhöfen, Flughäfen oder an öffentlichen Plätzen ist es Ihnen vielleicht auch schon aufgefallen: Sitzgelegenheiten im Stadtraum werden immer ungemütlicher gestaltet.

Statt auf Bänken zu verweilen, soll man sich auf eine Stange hocken oder an eine schräg abfallene Sitzfläche lehnen. In der Wartelounge sind die Sitzreihen durch Begrenzungen gestaffelt: Die Beine können Sie hier nicht mehr ausstrecken. Sowieso bleiben Sie nicht lange, denn aus den Lautsprechern dudelt kaum wahrnehmbar eine nervige Hintergrundmusik.

Obdach- und Wohnungslose aus der Stadt verdrängen

Einige Städte lassen sich einiges einfallen, damit Sie ihren Aufenthalt an öffentlichen Orten so kurz wie möglich gestalten. Dafür gibt es einen Fachbegriff: defensive Architektur.

Dahinter steckt ein Baustil, der darauf abzielt, obdach- und wohnungslosen Menschen den Aufenthalt an diesen Orten so unbequem wie möglich zu machen.

Als „menschenverachtend“ bezeichnet die Jury des „Unwort des Jahres“ diese Bauweise, weil sie gezielt marginalisierte Gruppen aus dem öffentlichen Raum verbannen möchte. Weil der Begriff diese Absicht verschleiere, ernennt die Jury ihn zu einem der drei Unwörter des Jahres 2022.

Im Stuttgarter Stadtbild verankert

Beispiel Stuttgart: Daniel Kanus von der lokalen Straßenzeitung „Trott-Wars“ führt in einem Insta-Reel von SWR Aktuell durch die Stadt.

Daniel Kanus von „Trott-Wars“ führt durch Stuttgart

Den Zugang zu trockenen und windgeschützten Flächen verwehren hässliche Betonklötze. In den U-Bahnstationen und zentralen Plätzen gibt es kaum noch Bänke. Unbequeme Sitzquadrate aus Metallgittern haben sie ersetzt. Lange ausruhen kann man sich hier nicht.

Stuttgart

Stadtführung in Stuttgart zeigt Beispiele "Defensive Architektur": Wie die Stadt Menschen ausgrenzt

Immer öfter wird über sogenannte defensive Architektur in Städten gesprochen. Auch in Stuttgart. Verweilen ist nicht vorgesehen. Kommt nun Bewegung in die Debatte und Gemütlichkeit in die Städte?

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Für Obdachlose unerträglich

Eine Holzbank mit durchgehender Sitzfläche und Lehnen spendet Wärme. Auf einem Hocker hingegen kann man nicht ausruhen. Noch dazu muss das Gepäck am Boden abgestellt werden und wird nass und dreckig.

Betonquader statt Sitzbänke: Das mag für die Stadtplanung praktisch, günstig und platzsparend sein. Obdachlose, die auf der Straße leben, sind jedoch auf Verweilmöglichkeiten angewiesen, die sicher sind.

Hamburger Rapper Disarstar wehrt sich

Auch die Stadt Hamburg hat spitzfindige Ideen, um den Aufenthalt in der Stadt für Obdachlose möglichst unbequem zu gestalten: Spikes und Betonklötze sind in potentielle Sitzflächen eingelassen. Einwegmülleimer verdrängen Pfandsammler aus der Innenstadt.

Der Rapper Disarstar lässt sich das nicht länger gefallen. In einem Youtube-Video bezeichnet er die Metallbügel an einer Sitzbank als Schikane gegen Obdachlose – und flext sie daraufhin kurzerhand weg:

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Gespräch Die Stimme der Straße – Christina Bacher ist Chefredakteurin von Deutschlands ältester Straßenzeitung

Christina Bacher ist Chefredakteurin von Deutsch­lands ältester Straßenzeitung. Der „Draussenseiter“ in Köln wurde vor 30 Jahren von Obdachlosen zum ersten Mal herausgegeben.

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Der Arzt Gerhard Trabert versorgt in Mainz Obdachlose dort, wo sie leben – auf der Straße. 1997 gründete er den Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“. 

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Leben Endlich ein Zuhause - Lebensplätze für obdachlose Frauen

Die ehemals obdachlosen Frauen im Haus “Lebensplätze” sind misstrauisch und viele lehnen Hilfe ab, obwohl sie sie bräuchten. Mit viel Geduld bemühen sich die MitarbeiterInnen um das Vertrauen der alten Damen.  Von Jutta Herms

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Elf Jahre lebte Dominik Bloh auf der Straße. Dann schrieb er ein Buch über sein Leben, das zum Bestseller wurde. Heute hat er eine Wohnung und engagiert sich für Obdachlose.

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Etwa 40.000 Minderjährige und junge Menschen in Deutschland haben kein festes Zuhause. Was treibt die Jungendlichen auf die Straße? Wann hilft ihnen der Staat, wo sind Lücken? Und was wünschen sich junge Obdachlose?

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Smilie lebt auf der Straße. Der Berliner Alexanderplatz ist sein Zuhause, die Clique obdachloser Jugendlicher seine Familie. Doch manchmal träumt er von einem anderen Leben. Von Julia Illmer und Massimo Maio

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