Das große Landeswappen von Baden-Württemberg hängt in einem Gerichtssaal im Gebäude des Oberlandesgerichts über den Richterstühlen. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow)

Zwei Jahre nach den Ausschreitungen in der Innenstadt

Nach Stuttgarter "Krawallnacht": Nur wenige Täter im Gefängnis

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Frieder Kümmerer
Frieder Kümmerer (Foto: privat)
Siri Warrlich

Nach der "Krawallnacht" forderte Innenminister Strobl ein hartes Vorgehen. Zwei Jahre später sind viele Urteile gesprochen worden. Doch wie schwer wurden die Täter eigentlich bestraft?

Nicht wenige staunten beim ersten Urteil: Zweieinhalb Jahre Haft für einen 18-Jährigen, der ein Fenster eines Polizeiautos eingeschlagen hatte - ohne Bewährung. Es war das erste Urteil im Zusammenhang mit der "Krawallnacht", das im November 2020 verkündet wurde. "Da waren alle im Saal überrascht", erinnert sich der Rechtsanwalt Marc Reschke. Er hatte den 18-Jährigen verteidigt. "Auch die Staatsanwaltschaft hatte nur eine Bewährungsstrafe gefordert. Das war schon ungewöhnlich." So ungewöhnlich, dass Reschke in Berufung ging - und Recht bekam. Das Urteil wurde korrigiert: auf zwei Jahre Haft - ausgesetzt zur Bewährung. Doch das anfängliche große Interesse an den Prozessen hatte da schon abgenommen. "Das hat kaum noch einer mitbekommen."

Der Medienandrang im ersten öffentlichen Prozess um die Stuttgarter Krawallnacht war groß (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Marijan Murat)
Der Medienandrang im ersten öffentlichen Prozess um die Stuttgarter "Krawallnacht" war groß. Nach der Urteilsverkündung kündigte der Rechtsanwalt Marc Reschke bereits an, in Berufung zu gehen. Der 18-Jährige musste sich vor dem Jugendschöffengericht verantworten.

Solche "Korrekturen" durch ein höheres Gericht gab es vor allem zu Beginn der "Krawallnacht"-Prozesse öfters. Später fielen die Urteile auch in erster Instanz weniger scharf auf. Dennoch sitzen einige der Täter bis heute im Gefängnis. Andere wurden auch nach zwei Jahren noch nicht gefasst.

Rechtsanwalt: "Die ersten Angeklagten hat es härter getroffen."

Die Vorkommnisse in der Krawallnacht "sind bisher in der Dimension eine einmalige Geschichte, die anschließend von der Justiz aufgearbeitet werden musste", erklärt Stefan Holoch. In seiner Rechtsanwaltskanzlei haben er und seine Kolleginnen und Kollegen etwa zehn junge Täter zwischen 15 und 25 Jahren bei den Prozessen vertreten. "Ich hatte den Eindruck, dass es die Täter, die man rasch ermittelt und vor Gericht gestellt hat, härter getroffen hat als die, die später dazu kamen. Da sollte so ein kleines Zeichen gesetzt werden. Davon bin ich überzeugt."

Entstanden die ersten Urteile unter politischem Druck?

Direkt nach dem ersten Urteil gibt auch Rechtsanwalt Marc Reschke ein Statement ab: "Das war ein politisches Urteil." Politiker wie Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) zeigten sich damals hingegen sichtlich zufrieden: "Der Rechtsstaat zeigt Zähne", warnte Strobl. "Das möchte sich der Mob hinter die Ohren schreiben, dass Randale und Gewalt bei uns kein Spaß sind." Doch die Anwälte der Jugendlichen stellen die Frage, ob Haftstrafen für zerstörte Fensterscheiben die richtigen Maßnahmen seien - und haben immer wieder mit dieser Argumentation Erfolg. "Das ist ja keine juristische Aussage, wenn ein Innenminister so eine Aussage trifft", sagt Holoch zu den Äußerungen Strobls. Durchaus könne da ein gewisser politischer Druck bei den ersten Urteilen eine Rolle gespielt haben, aber mit etwas Zeit und Augenmaß habe man einige in zweiter Instanz korrigieren können.

Spätere "Krawallnacht"-Urteile fallen weniger hart aus

Die harten Urteile zu Beginn der Prozesse bleiben eine Ausnahme. Zumindest für junge Menschen, die nur für Sachschäden wie zerbrochene Schaufenster oder eingeworfene Scheiben verantwortlich waren. "Wie immer: Die Zeit heilt Wunden", sagt Holoch. "Man hat dann auch mal geschaut: Was ist denn angemessen bei den Geschichten?" Die Beschuldigten, oft Teenager, seien mehrere Wochen bis zur Hauptverhandlung in Haft gewesen. Und meistens hätten sie sich vor der "Krawallnacht" nichts zu Schulden kommen lassen. "Da sagt man: okay, erstes Mal. Aus erzieherischen Gründen ist das eine Bewährungsstrafe." Rückblickend sagt Holoch: "Ich fand die Entscheidungen dann eigentlich alle akzeptabel."

Ein Polizeiauto, dass in der "Krawallnacht" beschädigt wurde, wird von Pressefotografen begutachtet. (Foto: IMAGO, IMAGO / Arnulf Hettrich)
Bei den Prozessen zur Stuttgarter "Krawallnacht" standen vor allem Vandalismus, Sachbeschädigung und Diebstahl im Fokus. Wie die eingeschlagenen Fensterscheiben eines Polizeiauto.

Haftstrafen bei Körperverletzung und versuchter Tötung

Dennoch gab es auch Urteile, wegen denen bis heute einige Täter im Gefängnis sitzen. Das war vor allem bei Körperverletzung und versuchter Tötung der Fall. Ein besonders prominentes Beispiel: Ein 17-Jähriger, der einen am Boden liegenden und nach einem Fausthieb bereits bewusstlosen Studenten gezielt gegen den Kopf getreten hat, wie das Landgericht Stuttgart in seinem Urteil feststellte. Er bekam dafür vier Jahre und drei Monate. Sein zwei Jahre älterer Begleiter wurde unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. "Diese Haftstrafen waren aber die Ausnahmen", erklärt Holich. "Denn dabei ging es ja um ein versuchtes Tötungsdelikt. Da gab es saftige Strafen. Und auch völlig zu recht."

Mehr als 100 Personen nach Ausschreitungen in Stuttgart vor Gericht

Laut Staatsanwaltschaft Stuttgart wurden innerhalb der vergangenen zwei Jahre 167 Beschuldigte ermittelt. In 103 Verfahren wurden Anklagen erhoben. Dabei ging es um Vorwürfe von "versuchtem Totschlag, schwerer Körperverletzung, räuberischem Diebstahl, Landfriedensbruch im besonders schweren Fall, tätlichem Angriff auf und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung, Diebstahl, Unterschlagung, Hehlerei, Sachbeschädigung und falscher Verdächtigung bis zu Beleidigung." Die Urteile reichten von Geldstrafen bis zu 120 Tagessätzen bis zu Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und vier Jahren und drei Monaten. Insgesamt handelt es sich laut Innenminister Strobl in Summe um 125 Jahre Jugend- und Freiheitsstrafen, davon über 50 Jahre ohne Bewährung. "Aktuell sind bei der Staatsanwaltschaft noch drei Verfahren gegen drei Personen offen."

Die Verhandlungen liefern keine Erklärung zu den Vorkommnissen

Bereits ein Jahr nach der Stuttgarter "Krawallnacht" wurde klar: Die Prozesse geben keinen Aufschluss darüber, was passiert ist. Von der Justizbehörde hieß es im Juni 2021, sie hätten keine plausible Erklärung für den damaligen Gewaltausbruch. "Die Strafverhandlungen haben wenig zur Erhellung beigetragen", sagte Gerichtspräsident Hans-Peter Rumler. "Das Überraschende war eigentlich, dass die Täter in ihrer überwiegenden Mehrheit und bis zu jener Nacht unauffällig gewesen sind."

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Es habe keine Brüche in den Lebensläufen der Täter gegeben, kaum Vorstrafen, die meisten angeklagten Jugendlichen und Heranwachsenden seien in Deutschland geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden, viele hätten einen Ausbildungsplatz, sagte Amtsrichter Joachim Spieth. "Und man kann wirklich nicht sagen, dass sie alle auf der Schattenseite des Lebens standen." Sicherlich hätten Gruppendynamik und Alkohol eine Rolle gespielt. "Aber in den Verhandlungen konnten sich die meisten Angeklagten die Gewalt auch gegen Polizisten selbst nicht mehr erklären."

Dem stimmen auch nach zwei Jahren die Anwälte zu. "Meine Mandanten sagten immer, diese Stimmung in der Nacht habe sie mitgerissen", erklärt Marc Reschke. Von Staatsfeindlichkeit hätte bei keinem seiner Mandanten die Rede sein können. Auch Stefan Holoch erklärt: "Fast alle unsere Mandanten haben ihre Bewährungsauflagen eingehalten und sind nicht wieder auffällig geworden."

Wiedergutmachtungskonferenzen: Täter treffen auf Opfer

Ein weiterer Teil der Aufarbeitung zur "Krawallnacht" bildeten die Wiedergutmachungskonferenz. Das waren Gespräche zwischen Tätern und Opfern. "Dabei saßen immer drei Polizeibeamte aus der Nacht und drei Jugendliche zusammen", erklärt Jasmina Wiehe vom Jugendamt in Stuttgart. "Die Konferenzen waren im Rathaus und gingen drei bis vier Stunden, in denen man sich unterhalten hat, sich miteinander auseinandergesetzt hat." Das Jugendamt hatte die Wiedergutmachungskonferenzen, die auch als Täter-Opfer-Ausgleich bekannt wurden, organisiert. "Es ging ums Verstehen, wie es den jeweils anderen ging und geht." Beide Seiten konnten bei den Gesprächen ausführlich von ihren Erlebnissen, Ängsten und Begegnungen aus der Nacht berichten.

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Ab Mittwoch Wiedergutmachungskonferenzen nach der Stuttgarter Krawallnacht beginnen

Am Mittwoch beginnen die Wiedergutmachungskonferenzen der Stadt Stuttgart - nach der Krawallnacht im Juni 2020. Was das bedeutet, erklärt Sozialarbeiter Wolfgang Schlupp-Hauck im Interview.

Insgesamt sieben solcher Konferenzen gab es, erklärt Wiehe. 24 Täter hätten daran teilgenommen. Die Letzte fand im Herbst 2021 statt. "Die Teilnahme an den Konferenzen waren manchmal auch Teil der Bewährungsauflage, die mit dem Urteil verhängt wurden." Das Fazit von Jasmina Wiehe: "Die Konferenzen waren sehr positiv. Es fanden Begegnungen auf Augenhöhe statt. Die Beteiligten sind meistens zufrieden rausgegangen, weil sie Antworten auf ihre Fragen bekommen haben." Sehr schade sei aber gewesen, dass neben den Polizeibeamten nur ein Geschäftsinhaber an der Konferenz teilgenommen habe.

Auch auf die Jugendlichen hatten die Konferenzen Auswirkungen. Viele haben im Anschluss daran Wiedergutmachung geleistet, mit sozialen Projekten in der Innenstadt. Bei einem seiner Mandanten habe das Gespräch sogar die Zukunftsplanung beeinflusst, erzählt der Anwalt Marc Reschke. Dieser habe sich nach der Wiedergutmachungskonferenz bei der Polizei beworben.

Bis heute nicht alle Täter gefasst

Nach wie vor sind aber nicht alle Täter gefasst. Das gilt besonders für einen Mann, der sichtbar in Videos einen Polizisten verletzt hat. Auch zwei Jahre nach der "Krawallnacht" teilt die Polizei auf SWR-Anfrage mit: "Derjenige, der den Polizeibeamten von hinten angesprungen und getreten hat, konnte (bislang) nicht ermittelt werden." Erst vor einigen Wochen wurden erneut Wohnungen im Zusammenhang mit den Ausschreitungen vor zwei Jahren durchsucht.

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