Menschen stehen vor einem geplünderten Geschäft in der Marienstraße. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa/Julian Rettig | Julian Rettig)

Zerstörung, Plünderung, Gewalt

Zwei Jahre Stuttgarter "Krawallnacht": Wie die Stadt sich verändert hat

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Siri Warrlich
Frieder Kümmerer
Frieder Kümmerer (Foto: privat)

Kameraüberwachung, mehr Vollzugsbeamte, Messerverbotszone: Viele Konsequenzen der "Krawallnacht" 2020 werden erst jetzt Realität. Wie ist die Lage an Stuttgarts Hotspots heute?

Dutzende Jugendliche ziehen randalierend durch die Innenstadt, verletzen Polizisten, schlagen Scheiben ein, plündern Läden und werfen mit Flaschen - die Szenen der "Krawallnacht" vom 20. Juni 2020 sind vielen in Stuttgart noch gut in Erinnerung.

167 Tatverdächtige aus der "Krawallnacht" wurden laut Stuttgarter Staatsanwaltschaft inzwischen ermittelt. In 103 Verfahren sei Anklage erhoben worden, Geldstrafen von bis zu 120 Tagessätzen wurden verhängt, aber auch Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu vier Jahren und drei Monaten.

Einsatzkräfte der Polizei laufen über den Schlossplatz. In der Nacht gab es rund um den Schlossplatz Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei.  (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Christoph Schmidt)
Szenen aus der Nacht vom 20. Juni 2020 sind vielen Menschen in Stuttgart noch gut im Gedächtnis.

Die juristische Aufarbeitung ist das eine, die Folgen für Politik und Lebensgefühl in der Stadt das andere. Die "Krawallnacht" war Auslöser für Veränderungen in der Stadt, die bis heute spürbar sind. Nun jährt sich die "Krawallnacht" zum zweiten Mal und viele fragen sich: Wie hat sich die Lage in der Innenstadt verändert?

2021: Tiefstand an Straftaten in der Innenstadt

"Die Situation ist besser geworden", sagt Jens Rügner von der Stuttgarter Polizei. Das zeige schon allein die Statistik. 2021 gab es laut Rügner einen Tiefstand der Straftaten in der Stuttgarter Innenstadt und einen Rückgang der Straftaten um fast ein Viertel gegenüber dem Vorjahr.

Jens Rügner, Polizei Stuttgart (Foto: SWR)
Jens Rügner von der Stuttgarter Polizei sieht eine Entspannung der Lage in der Innenstadt.

Rügner ist überzeugt: Die Polizei habe nach der Krawallnacht ihre Hausaufgaben gemacht, das zeige Wirkung.

"Flankierende Maßnahmen wie die mobile Jugendarbeit wurden aufgestockt und wir sind viel präsenter in der Innenstadt, sodass wir gewisse Dinge auch schon im Keim ersticken konnten."

Tatsächlich hat sich bei Polizei und Stadtverwaltung nach der Krawallnacht manches geändert. Ein 10-Punkte-Plan wurde ins Leben gerufen, die Maßnahmen waren als Mischung aus Zuhören und Grenzen aufzeigen gedacht. Gerade an den Wochenenden und in den Abend- und Nachtstunden will die Stadt mehr Personal einsetzen, um die Polizei zu entlasten. Dafür soll der städtische Vollzugsdienst um 30 Stellen auf 101 Stellen erweitert werden, wie Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) Anfang April bekannt gab.

Was sich in Stuttgart konkret verändert hat

Vor allem in die Jugendarbeit ist viel investiert worden, Stellen wurden aufgestockt, neue Initiativen ins Leben gerufen, Sportangebote für Jugendliche geschaffen. Immer wieder ging es nach der "Krawallnacht" auch um die Frage, welcher Anteil der Täter Migrationsgeschichte hat und ob das für die Bewertung der Taten eine Rolle spielt. Amtsrichter Joachim Spieth sagte ein Jahr nach den Vorfällen, dass die meisten Angeklagten in Deutschland geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden seien.

Eine weitere Neuerung nach der "Krawallnacht": An den Wochenenden sind in der Innenstadt Sozialarbeiter und Jugendliche unterwegs. Zum Beispiel die "Respektlotsen." Viele von ihnen haben selbst Migrationsgeschichte. Sie sprechen junge Leute an und wollen sie so zu Rücksicht motivieren, aber auch hören, welche Ängste und Sorgen die Jugendlichen haben. Die "Respektlotsen" sind ein städtisches Projekt, dessen Ursprung zeitlich allerdings schon vor der "Krawallnacht" lag.

Besprechung vor dem Einsatz: Respektlotsen im Inselbad in Stuttgart-Untertürkheim (Foto: SWR, Foto: Miriam Staber)
Besprechung vor dem Einsatz: Die Respektlotsen sind auch in Freibädern unterwegs - zum Beispiel im Inselbad in Untertürkheim

Neben Zuhören setzt die Stadt aber auch auf mehr Überwachung - unter anderem mit 23 Kameras in der Innenstadt, die erst knapp zwei Jahre nach der "Krawallnacht" in Betrieb gegangen sind.

Sozialarbeiter: Ausgangslage für "Krawallnacht" heute anders

Einer, der die Alltagssorgen der Jugend in Stuttgart gut kennt, ist Markus Graf. Er ist Sozialarbeiter bei der mobilen Jugendarbeit in Stuttgart. Nach der "Krawallnacht" wurde die Innenstadtabteilung der Jugendarbeit durch die evangelische und katholische Kirche sowie durch die Caritas komplett neu gegründet und aufgebaut - finanziell unterstützt durch die Stadt. Zusammen mit anderen Initiativen wie den "Respektlotsen" gehen die Sozialarbeiter abends in die Innenstadt und suchen den Kontakt zu jungen Leuten. Ähnlich wie die Polizei beobachtet Graf, dass die Lage sich entspannt habe.

"2020 waren die jungen Menschen in Stuttgart vielen Ängsten ausgesetzt." Es sei die Zeit von Corona-Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen gewesen, so Graf. "Sehr viele erzählten uns, dass sie in sehr beengtem Wohnraum mit vielen Personen leben. Da fiel es ihnen schwer, zu Hause zu bleiben. Dazu kamen Zukunfts- und Existenzängste." Keine Praktikums- und Ausbildungsplätze - das habe die Jugendlichen beschäftigt und ihr Leben durcheinander geworfen. Und diese Ängste seien auch Auslöser für die Krawallnacht gewesen, meint Graf.

"Wenn wir unterwegs sind, sind wir nach wie vor ständig in Gesprächen mit Jugendlichen."

"Heute ist die Stimmung in der Stadt sehr positiv. Die Atmosphäre ist sehr entspannt." Die Klubs seien wieder geöffnet, man könne sich wieder draußen treffen. "Die Jugendlichen haben ihre Freiheit und ihre Freizeit wieder." Sie könnten auch wieder in ihre Vereine gehen. Markus Graf nimmt in seiner Arbeit aber auch wahr, dass der Bedarf an Gesprächen mit Jugendlichen und Angeboten an sie ungebrochen hoch ist. Auch wenn nach zwei Jahren die Stimmung deutlich positiver ist und die Jugendlichen wieder mehr Angebote erhalten.

Auch Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper glaubt, dass die Situation in der Innenstadt und im Stuttgarter Nachtleben heute anders ist als vor zwei Jahren. "Wir haben besser durchmischtes Publikum", sagte Nopper dem SWR. "Das ist zum einen unseren Maßnahmen geschuldet, aber auch der veränderten Corona-Situation. Wir haben keine Lockdowns mehr, Gastronomie und Nachtclubs sind in vollem Umfang geöffnet."

"Zusammenrottung": City-Initiative sieht Handlungsbedarf

Alles gut sei in der Innenstadt aber noch lange nicht, findet Sven Hahn. Er leitet die City-Initiative, einen Zusammenschluss von Stuttgarter Einzelhändlern und Gastronomen.

Leere Flaschen und Verpackungsmüll am Stuttgarter Schlossplatz (Foto: IMAGO, Foto: IMAGO / Arnulf Hettrich)
Die Kritik der City-Initiative: Zu viel Müll in der Innenstadt.

"Wir haben an vielen Stellen viel Müll. Es gibt an manchen Hotspots Zusammenrottungen, die vom restlichen Publikum als Störung empfunden werden, weil es laut ist und aggressiv zugeht."

Besondere Problempunkte sieht Hahn am Schlossplatz und am kleinen Schlossplatz.

"Es treffen sich Gruppen, die eben nicht in die Klubs, Gastro oder Kulturbetriebe gehen, sondern den öffentlichen Raum zu ihrem Freizeitdomizil erklärt haben. Sie hinterlassen Müll. Blumen und Inventar werden teilweise auch beschädigt", sagt Hahn. "Das ist kein Zustand, den man einfach so hinnehmen kann."

Forderung: Kommerzielle Nutzung der Plätze erlauben

Hahn ist überzeugt, dass es noch mehr Durchmischung und attraktive Angebote für alle sozialen Gruppen in der Innenstadt brauche. "Dann haben wir ein soziales Korrektiv und diejenigen, die auf Blödsinn aus sind, sind nicht alleine."

Hahn fordert deshalb, die Satzung des Gemeinderats zu ändern, die derzeit unter anderem die Nutzung auf dem kleinen Schlossplatz regelt. Gewerbliche Veranstaltungen sind demnach auf dem kleinen Schlossplatz nicht möglich. "Wenn niemand mit Veranstaltungen im öffentlichen Raum Geld verdienen darf, schränkt das den Kreis der Nutzer enorm ein. Nicht jede Organisation kann drauflegen", sagt Hahn.

Ladenbesitzer: "In einer Großstadt muss man mit Dreck leben"

Nicht so viel Handlungsbedarf sieht dagegen Johannes Lettner. "Wir sind eine Großstadt, mit Dreck muss man leben", sagt der Ladenbesitzer und schmunzelt. Zusammen mit seiner Frau betreibt Lettner ein Geschäft für Tabakzubehör in der Marienstraße.

Johannes Lettner in seinem Geschäft für Tabakzubehör in der Stuttgarter Marienstraße (Foto: SWR)
Johannes Lettner in seinem Laden für Tabakzubehör in der Marienstraße. Das Geschäft wurde in der "Krawallnacht" geplündert.

Im Juni 2020 wurden bei den Ausschreitungen die Scheiben zerstört und Verkaufsartikel gestohlen. Trotzdem hegt Inhaber Lettner keinen Groll gegen die Täter. Er verweist auf das junge Alter vieler Täter und sieht die "Krawallnacht" eher als "superdumme Aktion" anstatt als Angriff auf den Rechtsstaat, wie sie andere verstehen. Einige der Täter waren selbst zuvor Kunden bei ihm im Laden, sagt Lettner.

"Viele Leute sind hier aufgetaucht und haben sich entschuldigt. Sie haben auch versucht, zu bereinigen, was sie geklaut oder zerstört haben."

Streit mit der Versicherung dauert bis heute

Finanziell beschäftigt Lettner die "Krawallnacht" allerdings bis heute. Er streite sich noch immer mit seiner Versicherung. "Sie will, dass der Laden jetzt rund um die Uhr durch einen externen Sicherheitsdienst bewacht wird."

Das mache für ihn aber finanziell keinen Sinn. Außerdem glaubt Lettner nicht, dass solch eine Überwachung in der "Krawallnacht" überhaupt einen Unterschied gemacht hätte.

CDU-Kreischef Malliaras: "Bild der Unzivilisiertheit"

Die Stuttgarter Innenstadt stand seit dem Juni 2020 immer wieder im Fokus. Im Mai 2021 gab es erneut Zusammenstößen zwischen jungen Menschen und der Polizei. Polizisten wurden angegriffen, beleidigt, wieder flogen Flaschen - vergleichbar mit der "Krawallnacht" war das Ausmaß aber nicht.

Schlagzeilen machte in jenen Tagen die Freitreppe am kleinen Schlossplatz, die sich immer wieder als Kristallisationspunkt für Konflikte zeigte. Einige Wochen lang wurde sie am Wochenende und vor Feiertagen abends gesperrt.

Im Januar 2022 sorgte dann ein Facebook-Post des CDU-Kreischefs Thrasivoulos Malliaras für neue Diskussionen. "Herumschreiende Jugendliche", "aufgeladene Stimmung" und generell ein "Bild der Unzivilisiertheit", gegen das nur "Law & Order" helfe - so beschrieb Malliaras seine Eindrücke nach einem Kinobesuch.

Stuttgarts CDU-Kreisvorsitzender Malliaras (Foto: privat)
Der Stuttgarter CDU-Kreisvorsitzende Thrasivoulos Malliaras postete Anfang des Jahres einen emotionalen Kommentar auf Facebook.

Auf Anfrage der "Stuttgarter Zeitung" wertete die Polizei aus, wie viele Vorfälle es an den Wochenenden vor Malliaras‘ Facebook-Post tatsächlich gegeben hatte. Die Bilanz: Eine sexuelle Belästigung, betrunkene E-Scooter-Fahrer, einige Falschparker und ein Verstoß gegen die Maskenpflicht.

Blick in die Zukunft: Messerverbotszone soll kommen

Zu Ende ist die Debatte um Sicherheit in der Stuttgarter Innenstadt nicht. Eine weitere Veränderung, mit der die Rathausspitze Gewalt vermeiden möchte, wird erst in den kommenden Wochen Realität werden. Dann soll in Stuttgart nach dem Willen des Oberbürgermeisters Frank Nopper (CDU) eine Waffenverbotszone in den Bereichen Kleiner Schlossplatz, Schlossplatz, Schlossgarten und Stadtgarten kommen. Davon erhofft sich Nopper mehr Sicherheit, denn die Stuttgarter Polizei stellt nach eigenen Angaben bei Kontrollen vermehrt fest, dass Messer mitgeführt werden, hieß es im Juni 2022. In Stuttgart gab es in den vergangenen Jahren mehrere Messerattacken.

Allerdings fehlt für eine Messerverbotszone noch die gesetzliche Grundlage. Das baden-württembergische Innenministerium will es Kommunen ermöglichen, solche Verbotszonen einzurichten, wo sie es für nötig und richtig halten. Die Kabinettsvorlage für eine entsprechende Verordnung ist vonseiten des Innenministeriums fertig, derzeit wird sie von den Fraktionen im Landtag beraten.