Nach über 60 Urteilen zu der Nacht, die bundesweit als Krawallnacht bekannt wurde, fehlt den Juristinnen und Juristen im Stuttgarter Amtsgericht eine plausible Erklärung für den damaligen Gewaltausbruch. "Die Strafverhandlungen haben wenig zur Erhellung beigetragen", sagte Gerichtspräsident Hans-Peter Rumler. "Das Überraschende war eigentlich, dass die Täter in ihrer überwiegenden Mehrheit und bis zu jener Nacht unauffällig gewesen sind."
Am späten 20. Juni 2020 hatten Dutzende - vor allem Jugendliche und junge Männer - nach einer Drogenkontrolle in der Stuttgarter Innenstadt randaliert. Polizisten waren bedroht, beworfen, getreten und verletzt worden. Schaufenster wurden zerstört und Geschäfte auf der Königstraße geplündert. Die Vorfälle hatten für hitzige Debatten um Videoüberwachung, Alkoholverbote und Aufenthaltsbeschränkungen gesorgt.
Wie am Dienstag bekannt wurde, sollen als Reaktion auf diesen Vorfall ausgewählte Orte in der Stuttgarter Innenstadt videoüberwacht werden. Nach Angaben der Stadt betrifft das Teile des Stuttgarter Schlossplatzes und des Oberen Schlossgartens. Der erste Einsatz einer Videoüberwachung soll schon in den nächsten Wochen ermöglicht werden.
Täter können sich Gewaltausbruch selbst nicht erklären
Es habe keine Brüche in den Lebensläufen der Täter gegeben, kaum Vorstrafen, die meisten angeklagten Jugendlichen und Heranwachsenden seien in Deutschland geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden, viele hätten einen Ausbildungsplatz, sagte Amtsrichter Joachim Spieth der Deutschen Presse-Agentur. "Und man kann wirklich nicht sagen, dass sie alle auf der Schattenseite des Lebens standen." Sicherlich hätten Gruppendynamik und Alkohol eine Rolle gespielt.
Bisher über 60 Urteile zur Stuttgarter Krawallnacht
Bis Ende Mai sind am Stuttgarter Amtsgericht 64 Urteile zur Krawallnacht gesprochen worden, die meisten vor dem Jugendschöffengericht, viele wegen schweren Landfriedensbruchs oder gefährlicher Körperverletzung. In den meisten Fällen konnte die Staatsanwaltschaft Videomaterial vor allem von Handys und aus sozialen Netzwerken wie Instagram, Facebook und Tiktok auswerten. Nach Angaben des Innenministeriums sind bislang 141 Tatverdächtige im Zusammenhang mit den Ausschreitungen ermittelt und 82 Haftbefehle erlassen worden. "Aktuell befinden sich noch fünf Tatverdächtige in Untersuchungshaft", sagte ein Ministeriumssprecher.
Urteile laut Juristen nicht abschreckend
Die Juristen Rumler und Spieth vom Stuttgarter Landgericht äußerten Zweifel, ob die Urteile in der Folge der Krawallnacht potenzielle Nachahmer von ähnlichen Gewaltausbrüchen fernhalten könnten. "Man hätte meinen können, dass sich eine solche Vielzahl an Haftbefehlen rumspricht und abschreckt", sagte Spieth. Es habe sich nichts Wesentliches verändert, wie jüngste Auseinandersetzungen junger Menschen in Stuttgart, Heidelberg, Tübingen und Freiburg gezeigt hätten. "Es bleiben Fragezeichen, und wer mit offenen Augen durch die Straßen zieht, der nimmt wahr, dass sich die Lage offensichtlich nicht entspannt hat." Man dürfe die Bedeutung des Bestrafens nicht überschätzen, sagte Rumler. "Auch wenn es wichtig ist, ein Zeichen zu setzen."
Ausschreitungen in mehreren Städten
In den vergangenen Wochen ist es immer wieder zu Zwischenfällen in verschiedenen Städten in Baden-Württemberg gekommen, auf die die Juristen Bezug nehmen:
Am letzten Maiwochenende hatten Randalierer in Stuttgart mehrere Polizisten verletzt, unter anderem mit Flaschenwürfen. Die Einsatzkräfte hatten zuvor im Bereich des Schlossplatzes auf die Corona-Regeln und das Alkoholverbot hingewiesen. Nach der Räumung des Areals wurden diverse Sachbeschädigungen festgestellt.
In Tübingen hatten sich vergangenes Wochenende junge Menschen im Alten Botanischen Garten versammelt und dabei gegen die Corona-Regeln verstoßen. Einsatzkräfte wurden beleidigt und mit Flaschen beworfen. Einige von ihnen erlitten Verletzungen.
Auch in Heidelberg kam es am Pfingstwochenende zu Ausschreitungen. Feiernde Jugendliche griffen auf der Neckarwiese Polizisten an und randalierten. In der Folge erließ die Stadt ein nächtliches Aufenthaltsverbot auf dem Gelände.
Protestforscherin empfiehlt bessere Kommunikation
Eine Folge der Ausschreitungen war in der Regel, Polizeikräfte in den Innenstädten verstärkt einzusetzen. Nach der Meinung der Protestforscherin Julika Mücke das falsche Signal, man sollte vor allem das Gespräch mit den jungen Menschen suchen. "Statt polizeilich aufzurüsten, sollte die Kommunikation an der Basis etwa mit Streetworkern verbessert werden", sagte die Doktorandin an der Universität Münster der Deutschen Presse-Agentur. Politik und Polizei müssten genau untersuchen, welche Konflikte hinter den Auseinandersetzungen stünden.
Die Ereignisse in den vergangenen Wochen sollten zunächst als Ausdruck der Unzufriedenheit gesehen werden, auch wenn die jungen Menschen nicht die gängigen Wege wie Demonstrationen oder Petitionen nutzen, um sich Gehör zu verschaffen, sagte Mücke. In den Städten gehe es oft um die Frage, wer den öffentlichen Raum auf welche Weise nutzen dürfe. Dieses Thema sei mit den Corona-Einschränkungen noch brisanter geworden. Ziel müsse es sein, den Konflikten nicht ausschließlich ordnungspolitisch zu begegnen, sondern nach dem eigentlichen Problem zu suchen und den jungen Leuten Beteiligungsmöglichkeiten zu verschaffen.