Eine Schülerin zeigt in der Grundschule Feldstraße im Unterricht auf. Für rund 2,5 Millionen Schülerinnen und Schüler hat in Nordrhein-Westfalen der Unterricht nach den Sommerferien begonnen. (Zu dpalnw: "Start ins neue Schuljahr: Mit Corona und Personalmangel") (Foto: dpa Bildfunk, picture alliancedpa  Oliver Berg)

BW-Absturz bei Bildungsstudie

Probleme an Grundschulen: Was BW von Hamburg lernen kann

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Marc-Julien Heinsch
SWR-Redakteur Marc-Julien Heinsch Autor Bild (Foto: David-Pierce Brill)

Hamburgs Viertklässler haben sich binnen zehn Jahren stark im Bildungstrend verbessert. Heute liegt BW bei der Lesefähigkeit an Grundschulen hinter Hamburg. Wie hat Hamburg das geschafft?

Baden-Württemberg ist im Bildungsranking der Länder nicht mehr in der Spitzengruppe, sondern nur noch Mittelmaß. Jedes fünfte Kind in der vierten Klasse im Land hat Schwierigkeiten mit dem Lesen sowie Probleme beim Zuhören und Verstehen.

Gegensätzliche Trends in Hamburg und BW

Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist "tief beunruhigt", "nicht überraschend" findet Kultusministerin Theresa Schopper (beide Grüne) die Ergebnisse der neuesten deutschlandweiten Bildungsstudie. Eine "ungute Entwicklung" nennt Schopper sie dennoch.

Ganz anders ist es in Hamburg. Schulsenator Ties Rabe (SPD) jubelt angesichts der neuesten Bildungserhebung: "Das ist das mit Abstand beste Ergebnis von Hamburger Schülerinnen und Schülern seit Beginn der bundesweiten Lernstandsuntersuchungen vor über 20 Jahren." Und tatsächlich: Während in allen 16 Bundesländern die Leistungen erheblich unter den Corona-Schulschließungen gelitten haben, ist der Einbruch in Hamburg geringer.

Kinder lesen in einer Grundschule. Hamburg ist binnen zehn Jahren zum Vorzeigeland bei früher Bildung geworden. Heute liegt BW bei der Lesefähigkeit an Grundschulen auf Platz 9, Hamburg auf Platz 3. Wie haben sie das geschafft? (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow)
Hamburger Viertklässlerinnen und Vierklässler liegen beim Lesen mittlerweile vor denen aus Baden-Württemberg.

Hamburgs Viertklässler massiv verbessert

Schaut man auf die letzten zehn Jahre, so hat Hamburg einen beeindruckenden Aufstieg hingelegt. Noch 2011 unter den letztplatzierten drei Ländern, liegt Hamburg beim Lesen heute auf Platz drei, beim Zuhören auf Platz fünf. In beiden Bereichen vor Baden-Württemberg, das noch 2011 weit vor Hamburg zur Spitzengruppe zählte.

Wie hat Hamburg es geschafft, seine Probleme erfolgreich zu bekämpfen? Was ist hierzulande schief gelaufen und vor allem - was kann Baden-Württemberg von Hamburg lernen?

Bildungstrend: So hat Hamburg die Wende geschafft

Im IQB-Bildungstrend 2021 (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) heißt es: "Hamburg gehört im Vergleich der Länder nicht mehr - wie noch im Jahr 2011 - zu den Schlusslichtern und hat sich von den Ergebnissen der anderen beiden Stadtstaaten Berlin und Bremen inzwischen deutlich abgesetzt." Mögliche Gründe: Seit mehr als 20 Jahren setzt Hamburg "konsequent" auf eine Strategie, bei der Schulen stetig messen, wie sich Veränderungen an System oder Unterricht auswirken.

Ob hier das Erfolgsgeheimnis liege, lasse sich zwar nicht mit Sicherheit sagen, so die IQB-Autorinnen und Autoren. Es erscheine jedoch plausibel, dass durch eine stark datengestützte Bildungspolitik wie in Hamburg gezielter und frühzeitiger auf sich abzeichnende Probleme reagiert werden könne.

Aber Erfolge und Fehlentwicklungen genau zu messen ist eigentlich erst der zweite Schritt. Bevor man ihren Erfolg messen kann, müssen Veränderungen erst einmal angestoßen werden.

Vorschule: Alle Kinder auf einen Stand bringen

In Hamburg beginnt die Vorbereitung auf die Schule schon im Kita-Alter. Alle Kinder werden eineinhalb Jahre vor ihrer Einschulung auf ihre Sprachentwicklung getestet. Ist sie verzögert, muss das Kind ein Jahr lang verpflichtend eine Vorschule samt Sprachförderung besuchen oder in der Kita sprachlich gefördert werden. Am ersten Schultag sollen alle Kinder sprachlich auf demselben Stand sein, Sprachprobleme dem gemeinsamen Lernstart nicht im Weg stehen.

Unterstützung, Förderung, Ganztagsbetreuung

Ein weiterer Schritt: Hamburg teilt Schulen nach einem Sozialindex ein. Grundschulen in "sozial schwieriger Lage" bekommen bis zu 50 Prozent mehr Personal, können so kleinere Klassen und mehr Förderung ermöglichen.

Dann gibt es noch das Projekt "D23+": Knapp 40 Schulen in "sozial besonders schwieriger Lage" werden unterstützt, um Schule und Unterricht weiterzuentwickeln. "Sozial besonders schwierige Lage" bedeutet in Hamburg etwa, dass der Anteil von Kindern mit nicht deutscher Herkunftssprache an der Schule besonders hoch ist. Auch die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf und die Arbeitslosenquote im Einzugsgebiet der Grundschule werden berücksichtigt.

Außerdem fördert Hamburg schwächere Schüler von Beginn an - wer eine Fünf schreibt, muss zwei kostenlose Nachhilfestunden pro Woche besuchen. Zusätzlich bieten seit 2014 alle Schulen Ganztagsbetreuung an.

In SWR2-Forum diskutierten am 3. August Expertinnen und Experten Ideen für die Grundschule von morgen:

Strukturen, um Lernrückstände aufzuholen

In den Ferien gab es in Hamburg schon vor Corona Unterrichtsangebote, die sich besonders an Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten richteten. Das hatte einen positiven Effekt, als wegen der Pandemie Schulen geschlossen wurden.

In Folge der Corona-Schulschließungen schnürten Bund und Länder das zwei Milliarden Euro schwere Paket "Aufholen nach Corona". Doch das viele Geld verpuffte häufig: In fast allen Bundesländern verfehlten die Aufholprogramme laut einer Studie ihr Ziel. Benachteiligte Schülerinnen und Schüler, die von Schulschließungen besonders stark im Lernen zurückgeworfen waren, profitierten kaum von zusätzlichen Angeboten.

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In ihrer Studie heben die Forscherinnen und Forscher vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hervor: Nur wenige Bundesländer hätten die Mittel gezielt dorthin geschickt, wo der Bedarf groß war. Darunter: Hamburg. Denn dort gab es durch die etablierten Ferien-Lernangebote bereits Strukturen und Personal, um Kindern mit Lernrückständen zu helfen. Davon profitierte man auch beim Corona-Aufholprogramm.

Hamburg: Große Konstanz in der Schulpolitik

Diese Hamburger Schulpolitik wirkt wie aus einem Guss - und hat Schülerinnen und Schüler messbar beim Lesen und Zuhören nach vorn und vorbei an Baden-Württemberg getragen. Nur bei Rechtschreibung und Mathe liegt Baden-Württemberg noch vor Hamburg. Aber: BW hat sich seit 2011 in Mathe verschlechtert, während die Hansestadt in dieser Zeit sechs Plätze gutgemacht hat.

Natürlich gibt es nicht den einen Grund, mit dem diese Entwicklung zu erklären wäre. Ein zumindest plausibler Erklärungsansatz ist aber die schulpolitische Konstanz in Hamburg. Ties Rabe (SPD) ist seit 2011 Schulsenator von Hamburg. Auch wenn manche Reformen noch aus der Zeit vor Rabe stammen: Baden-Württemberg hat allein in seiner Amtszeit vier Kultusministerinnen und -minister erlebt - aus drei Parteien.

Ricarda Kaiser ist selbst Grundschullehrerin und bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Baden-Württemberg stellvertretende Landesvorsitzende. Sie nennt die Grundschule im Land eine "vernachlässigte Schulart". Die Ausstattung sei seit Jahren viel schlechter als in anderen Schularten. In die weiterführenden Schulen werde viel investiert, um zu reparieren, statt den Grundstein, also die Grundschulen, zu stärken. Ist Baden-Württemberg in der Schulpolitik auf dem Holzweg?

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Nachholbedarf in BW

Aus dem Kultusministerium von Baden-Württemberg heißt es auf SWR-Anfrage, das Land habe bereits zahlreiche Maßnahmen umgesetzt, um die Qualität im Bildungswesen zu verbessern. Auch Hamburg habe aber "viel Zeit und Geduld" benötigt. Außerdem seien in einem kleineren Stadtstaat Maßnahmen "einfacher und schneller umzusetzen als im Flächenland Baden-Württemberg". Stimmt das?

Eine Frau, die das beurteilen kann, ist Felicitas Thiel. Sie ist Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz und Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin.

Die Entwicklung in Hamburg sei wirklich eine "ganz große Leistung", sagt Thiel. Aber auch dort habe es zehn Jahre gedauert, bis positive Effekte sichtbar wurden. Baden-Württemberg stehe nicht ganz schlecht da, sondern im Mittelfeld. Trotzdem gebe es beim Lesen oder auch in Mathematik seit 2011 eine klare Verschlechterung.

Diese Verschlechterung hat für die Wissenschaftlerin viele Gründe. So müsse man berücksichtigen, sagt Thiel, dass an Grundschulen in Baden-Württemberg mehr Kinder einen Zuwanderungshintergrund haben als etwa in Berlin - auch mehr als in Hamburg. Um die angemessen zu fördern, fehle es in fast allen Bundesländern an Personal - und das nicht erst seit dem Ukraine-Krieg. "Das ist eine ganz dramatische Situation, die nicht auf die Integration von Kindern Geflüchteter zurückgeführt werden kann." Für Thiel ist klar, dass man ohne Quer- und Seiteneinsteigerinnen und - einsteiger im Lehramt in den kommenden Jahren nicht zurecht kommen wird. Deshalb müssten die Länder auch nach Wegen suchen, die Quereinstiege in den Lehrberuf besser zu organisieren.

Felicitas Thiel, Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz und Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin. (Foto: Felicitas Thiel)
"Es ist immer auch die Frage: Was ist uns Bildung wert?", sagt Expertin Felicitas Thiel. Sie plädiert dafür, das Geld in die Hand zu nehmen und Kinder mit Schwierigkeiten schon im Vorschulalter zu fördern.

Ein weiterer Grund: Nur wenige Grundschulen in Baden-Württemberg haben ein Ganztagsangebot. Gerade für Schülerinnen und Schüler mit viel Förderbedarf bleibe nur wenig aktive Lernzeit. Dabei müssten ganz besonders Schulkinder mit Schwierigkeiten beim Lesen, Verstehen oder Rechnen gezielt gefördert werden, erklärt die Bildungsforscherin. Am besten fange man schon im Kita-Alter an, sie eng zu begleiten.

Auch der IQB-Bericht zeigt: Inbesondere Kinder aus sozial weniger privilegierten Familien oder mit einem Zuwanderungshintergrund schneiden eher schlecht ab. Um sie gezielt zu fördern, brauche es Personal, eingespielte Strukturen und Evaluationen, sagt Thiel. "Das ist wirklich unsere ganz große gesellschaftliche Baustelle. Wir brauchen gar nicht über soziale Integration zu sprechen, wenn wir dieses Problem nicht anpacken."

BW habe aber den guten Weg eingeschlagen

Baden-Württemberg hat aus Sicht von Felicitas Thiel in den vergangenen Jahren die richtigen Schlüsse gezogen. Sie lobt die Institutsgründungen durch das Kultusministerium (siehe auch Infokasten weiter oben), die für eine stärker datengestützte Schulpolitik sorgen sollen. Außerdem hebt sie das Förderprogramm "Starke BASIS!" hervor, das im September gestartet ist und Kinder gezielt bei Grundkenntnissen wie Lesen und Rechnen unterstützen soll.

"Mehr als überfällig", nennt Thiel dagegen die Ankündigung, dass Baden-Württemberg im kommenden Jahr damit beginnen will, Schulen nach einem Sozialindex einzuteilen und so zu bestimmen, wer zusätzliche Fördermittel bekommt. "Ich hoffe sehr für die Kolleginnen und Kollegen, dass sich das Ganze dann auszahlt und man beim nächsten Bildungstrend vielleicht schon die Ergebnisse sieht." Der richtige Weg, sagt die Bildungsforscherin, sei eingeschlagen worden.

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