Kinder lesen in einer Grundschule.

Jeder fünfte Viertklässler kann nicht richtig lesen

Bundesweite Studie zur Lesekompetenz: Grundschüler in BW sind schwach

Stand

In Baden-Württemberg haben viele Viertklässler Probleme mit Lesen und Zuhören. Laut einer aktuellen Bildungsstudie liegt das Land weiter im Mittelfeld. Dafür gibt es Kritik.

In Baden-Württemberg hat jedes fünfte Grundschulkind Probleme beim Lesen und Zuhören. Das zeigt die aktuelle Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) unter Viertklässlerinnen und Viertklässlern, die am Montag in Berlin vorgestellt wurde. Fast jedes fünfte Kind schafft die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht. Das Land rutscht damit nach dem schmerzlichen Absturz bei der Leistungsstudie im Jahr 2016 dieses Mal noch weiter ab. In der Rangliste der Länder ist Baden-Württemberg weiter nur im Mittelfeld zu finden.

Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) sprach von einem ernüchternden Ergebnis. Kritik kommt von der Bildungsgewerkschaft GEW und von der Opposition im Landtag.

Baden-Württemberg im Ländervergleich weiter im Mittelfeld

Beim Lesen liegen die Viertklässler aus Baden-Württemberg auf Rang neun, beim Zuhören sogar nur auf Platz elf. In beiden Bereichen erreichen nur 57 Prozent der Kinder die sogenannten Regelstandards, ein Fünftel schaffe nicht einmal die Mindeststandards.

Zur Erklärung: Beim Zuhören sollen Schülerinnen und Schüler unter anderem lernen, Gesprächen zu folgen, den Inhalt zu verstehen und gegebenenfalls beim Gesprächspartner nachzufragen. Außerdem sollen sie aus dem Gehörten Schlussfolgerungen ziehen können und das Gehörte wiedergeben können. Die Kategorie stammt aus der Kultusministerkonferenz und wurde in der Studie, ebenso wie die Anforderungen beim Lesen, Schreiben und Rechnen, untersucht. 

Auch große Probleme im Fach Mathematik

Bei der Rechtschreibung liegt das Land immerhin auf dem dritten Platz. Aber auch hier hinken viele Kinder hinterher: Nur 47 Prozent packen den Regelstandard, 28 Prozent schaffen die Mindestanforderungen nicht.

In Mathematik liegt das Land auf Rang sechs - knapp ein Fünftel der Mädchen und Jungen erreicht das Mindestlevel nicht. Aus dem baden-württembergischen Kultusministerium heißt es, immerhin sei das Absinken der Leistungen etwas abgebremst und nicht so stark wie im Bundestrend. Damit steht Baden-Württemberg mit den Problemen überdies nicht allein: Bundesweit sind die Viertklässler beim Lesen, Schreiben und Rechnen im Vergleich zu den vergangenen Studien nochmal zurückgefallen.

Studie: Bildungserfolg hängt vom sozialen Status ab

Auch dass der Bildungserfolg vom sozialen Status der Eltern abhängt, taucht in der Studie auf. So waren in Baden-Württemberg die Kompetenzen im Lesen stark daran gekoppelt. Der Unterschied zwischen Kindern aus privilegierten Haushalten, die mehr als 100 Bücher besitzen, und jenen aus weniger privilegierten, ist demnach weiter groß.

Schopper: "Ergebnisse wenig überraschend"

Baden-Württembergs Kultusministerin Schopper stellte die Studie in Berlin unter anderem vor. Sie bezeichnete das Absinken der Leistungen der Viertklässler als "wenig überraschend und ernüchternd zugleich".

"Angesichts der Schulschließungen in der Corona-Pandemie war zu erwarten, dass die Schere weiter auseinandergeht und die Leistungen der Schüler weiter sinken."

Trotzdem will die Ministerin die Corona-Pandemie nicht als einzige Erklärung für die Ergebnisse herhalten lassen. Zum Zeitpunkt der Tests im Frühjahr und Sommer 2021 hatten die Schülerinnen und Schüler ein Jahr Pandemie und somit auch Monate des Home-Schoolings hinter sich. Denn die Studie zeige eine "ungute Entwicklung, die sich bereits in den vorherigen Erhebungen angedeutet habe", so Schopper. Als eine Konsequenz will sie deshalb die frühkindliche Bildung beim Zuhören stärken.

Schulleiter: "Sehr hoher Aufwand für Lehrkräfte"

Auch für Jörg Fröscher, Schulleiter Gemeinschaftsschule mit Grundschule, in Ditzingen (Kreis Ludwigsburg) kommen die Ergebnisse wenig überraschend. "Die Ergebnisse kennen wir ja schon seit den letzten zehn Jahren, dass es sich da im Endeffekt verschlechtert hat", so der Rektor im Interview mit dem SWR. Die fehlende Lesekompetenz sei ein sehr hoher Aufwand für die Lehrkräfte.

In der Studie wird auch darauf hingewiesen, dass der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund unter den Viertklässlern in Baden-Württemberg bei knapp 50 Prozent liegt - das sei unter den Flächenländern der höchste Wert. Hinzu kommt, dass der Anteil der Haushalte im Land, in denen nur Deutsch als Familiensprache gesprochen wird, bei 53,6 Prozent liege. Das sei im Vergleich zur Studie im Jahr 2016 deutlich zurückgegangen.

Das kann Fröscher bestätigen. "In den Familien wird oft nicht deutsch gesprochen. Die Kinder machen die Spracherfahrung nur in der Schule", sagt er. Die schlechten Ergebnisse nur auf Kinder mit Migrationshintergrund zurückzuführen, sei aber zu einfach. "Wir stellen auch fest, dass immer mehr Kinder in der Grundschule den Tag über auch sehr viel alleine gelassen werden", erklärt der Schulleiter. Die Kinder würden sich eher mit digitalen Geräten befassen und würden weniger Erfahrungen beim Spielen mit Kindern aus der Nachbarschaft machen. "Das heißt also ganz einfach, Sprechen ist etwas, das deutlich zurückgenommen wurde", sagte Fröscher.

Die Hälfte aller Kinder in BW wächst zweisprachig auf

Kultusministerin Schopper kündigte Konsequenzen an und will die Sprachförderung verbessern. Sonst hätten später nicht nur die Kinder ein Problem, sondern auch Baden-Württemberg als wirtschaftlich starkes Land, das gut ausgebildete Fachkräfte brauche, so die Ministerin. Schopper zeigte sich dennoch überzeugt, dass der eingeschlagene Weg richtig sei. Das Land hatte nach dem Absturz bei der Studie 2016 zwei wissenschaftliche Institute gegründet, die das Bildungswesen im Land unter die Lupe nehmen. Außerdem verwies sie auf Maßnahmen, um die Basiskompetenzen der Grundschüler in Deutsch und Mathe zu stärken.

Schulleiter: "Massive Krise in Lehrerversorgung"

Um bei Bildungsstudien künftig wieder besser abzuschneiden, braucht es laut Fröscher vor allem eins: Unterricht. Denn dieser fällt zu häufig aus. "Wir brauchen Personal. Wir sind in einer massiven Krise in der Lehrerversorgung", so der Ditzinger Rektor. Vertretungssunterricht habe nicht die Qualität einer regulären Unterrichtsstunde, außerdem bräuchten die Schulen pädagogische Hilfskräfte.

Kritik von GEW und Opposition an Bildungspolitik

Die Ergebnisse der IQB-Studie sorgen auch für Kritik von der Bildungsgewerkschaft GEW und den Oppositionsparteien SPD und FDP. Sie werfen den Grünen und der CDU vor, zwar erkannt zu haben, dass es in vielen Familien einen Nachholbedarf bei der deutschen Sprache gebe. Allerdings habe es die Landesregierung verpasst, auf dieses seit Jahren bekannte Problem zu reagieren.

Sowohl die Gewerkschaft als auch SPD und FDP sehen den Lehrermangel an den Grundschulen in Baden-Württemberg als Hauptgrund für das schlechte Abschneiden der Schülerinnen und Schüler bei der Studie. Laut GEW kommen nirgendwo in Deutschland so viele Grundschülerinnen und Grundschüler auf eine Lehrkraft wie in Baden-Württemberg.

SPD-Landeschef Andreas Stoch beklagte, dass die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der Herkunft viel zu hoch sei. Es sei falsch, dass Lehrkräfte nebenbei für Integration und Sprachförderung sorgen sollten. Kritik kommt auch von Seiten der FDP. Deren Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sagte: “Diese Regierung verspielt die Zukunft dieses Landes, indem sie peu à peu unser Bildungswesen systematisch ruiniert.”

Die AfD will mehr Förderung schon in den Kitas, um bei der Einschulung ein möglichst einheitliches Leistungsniveau zu erreichen.

Handwerk fordert: Bildungsqualität muss verbessert werden

Auch Landeshandwerkspräsident Rainer Reicholt sieht die Ergebnisse der Bildungsstudie mit großer Sorge: “Wir brauchen heute und in Zukunft dringend qualifizierte Fachkräfte, um die großen Herausforderungen wie die Klimawende oder die wirtschaftliche Transformation zu meistern.” Fehlten schon bei den Grundschülern Kernkompetenzen, werde sich die Situation weiter verschärfen, so Reicholt.

Pädagoge: Lesekompetenz durch Vorlesen erhöhen

Ein Vorschlag, wie sich Lesekompetenz und das Zuhören verbessern lassen, kommt von Jürgen Belgrad, Professor für Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten: aktives Vorlesen im Unterricht und zu Hause. Untersuchungen hätten gezeigt, dass Kinder, denen regelmäßig vorgelesen werde, aktiver und länger selbst lesen, so Belgrad im SWR. Hörbücher ersetzen das wichtige frontale Vorlesen nicht. Das direkte Vorlesen von Eltern oder Lehrkräften, erhöhe im Vergleich zu Hörbüchern die Lesekompetenz der Kinder um das Dreifache.

Grundlage der IQB-Studie waren Tests an fast 1.500 Schulen in ganz Deutschland mit etwa 27.000 Viertklässlern zwischen April und August 2021. In Baden-Württemberg nahmen etwa 90 Schulen und 1.600 Kinder aus der damaligen vierten Klasse teil.

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SWR

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