Spielzeug liegt in einer Kindertagesstätte auf dem Boden (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Monika Skolimowska)

Personalmangel und Sprachdefizite

Kita-Stress und Grundschul-Misere: Wer stoppt die Bildungskrise?

Manche Grundschulkinder in BW können kein Deutsch, andere noch nicht mal den Stift halten. Dinge, die sie schon in den Kitas lernen könnten. Vielerorts mangelt es aber an Plätzen und Personal.

Viele Kinder sind laut der Vorsitzenden des Verbands Kita-Fachkräfte Baden-Württemberg, Anja Braekow, nicht gut für die Schule gewappnet. "Wir stellen fest, dass die Kinder tatsächlich immer weniger Rüstzeug und auch Handwerkszeug haben", sagte sie in der SWR-Sendung "Zur Sache! Baden-Württemberg". Ein Kind könne vor der ersten Klasse seinen Namen schon richtig schreiben, ein anderes noch nicht mal den Stift richtig halten. Hier gäbe es aufgrund der Corona-Pandemie einiges aufzuholen.

In vielen Kitas bliebe aber nicht mal Zeit für die Gruppe, schon gar nicht für jedes einzelne Kind, sagte Braekow. In diesem Zusammenhang beklagte sie die dünne Personaldecke. Laut einer Studie des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) aus dem vergangenen Jahr verletzten immer mehr Kitas mangels Personals zeitweise ihre Aufsichtspflicht.

Verband Kita-Fachkräfte beklagt Entprofessionalisierung

Die Politik versucht den Personalmangel auch mit Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern oder nicht-pädagogischen Kräften abzufedern. Laut Braekow führt diese Entprofessionalisierung ihres Berufs aber zu neuen Problemen. "Es werden gerade gefühlt alle als Zusatzkräfte in Kitas reingelassen, die das Wort buchstabieren können", sagte sie. Die Ausbildungsvorschriften seien weniger streng als früher.

"Wir legen die Wurzeln für das weitere Leben. Da brauchen wir einfach Menschen, die wissen, wie Bildung funktioniert", sagte Braekow. Sie habe nichts gegen Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, solange diese nicht auf den Personalschlüssel angerechnet werden, sagte sie. Genau das bekomme sie aber immer wieder von Kolleginnen und Kollegen mit. "Das geht in meinen Augen nicht."

Schopper: Zahl der Ausbildungsplätze seit 2010 verdoppelt

Der Karlsruher Oberbürgermeister und Städtetagspräsident Frank Mentrup (SPD) kann die Bedenken von Braekow verstehen. Er gab zu, es sei ein Risiko, dass "die Qualität in bestimmten Bereichen nicht mehr ganz so hoch ist", wenn andere Berufsgruppen in den Kitas arbeiteten. "Auf der anderen Seite haben wir in Baden-Württemberg in den Kitas den höchsten Personalschlüssel bezogen auf Kinder in ganz Deutschland", sagte Mentrup bei "Zur Sache! Baden-Württemberg".

Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) äußerte Verständnis für die Unzufriedenheit vieler Eltern über gekürzte Kita-Öffnungszeiten wegen des Personalmangels. Sie engagieren sich zum Beispiel in Stuttgart in der Initiative "Kitastrophe". Schopper betonte in diesem Zusammenhang, dass man die Zahl der Ausbildungsplätze in Kitas seit 2010 verdoppelt habe.

Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung fehlten im Jahr 2023 rund 57.600 Kitaplätze. Um diese Plätze zu schaffen, hätten die Kommunen als Kita-Träger zusätzlich 16.800 Fachkräfte einstellen müssen. Seit 2013 haben Eltern für Kinder ab dem ersten Lebensjahr eigentlich einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz.

Vorbereitungsklassen für Kinder ohne Deutschkenntnisse

Nach Ansicht von Peter Deffaa, Rektor an der Mannheimer Neckarschule, kann es zum Problem werden, wenn Kinder nicht in die Kita gehen. Die Neckarschule gilt als sogenannte Brennpunkt-Grundschule. Die Schülerinnen und Schüler dort haben laut Deffaa 60 verschiedene Nationalitäten.

Es gibt mehrere Vorbereitungsklassen, in denen Kinder Deutsch lernen sollen. Manche der Kinder sind mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet. Andere sind hier geboren, sprechen aber zu Hause eine andere Sprache. "Wir haben regelmäßig Kinder, die ein 'Guten Tag' und 'auf Wiedersehen' kennen, mehr nicht", sagte Deffaa in der SWR-Sendung "Zur Sache! Baden-Württemberg". Sie hätten in ihrer Familie bisher kein Deutsch sprechen müssen.

In den Vorbereitungsklassen haben sie bis zu zwei Jahre Zeit, um es zu lernen. Dann geht es für sie in den normalen Unterricht, und zwar in die Klasse, die ihrem Alter entspricht - nicht ihrem Lernstand. An der Neckarschule haben bei den letzten VERA-Vergleichsarbeiten laut Deffaa bis zu 70 Prozent der Drittklässlerinnen und Drittklässler die Mindeststandards nicht erreicht. "Das heißt, wir haben Kinder in den dritten Klassen sitzen, die gar nicht in der dritten Klasse sein dürften", sagte der Rektor.

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Daneben möchte das Kultusministerium mehr sogenannte multiprofessionelle Teams in die Grundschulen schicken. Bisher gibt es im Rahmen eines Modellversuchs an jeweils vier Standorten in den vier Regierungsbezirken solche Teams. Diese setzen sich aus Menschen mit unterschiedlichen Fachkenntnissen zusammen. Zum Beispiel gehören Handwerker oder Künstler dazu oder Physiotherapeuten und auch junge Menschen, die ein Freiwilliges Pädagogisches oder Freiwilliges Soziales Jahr oder einen Berufsfreiwilligendienst machen.

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Rektor: Eltern wollten "Kumpels" ihrer Kinder sein

Deffaa sieht auch die Eltern in der Pflicht. "Eltern wollen Kumpels ihrer Kinder sein", sagte er. Die eigentliche Erziehungsarbeit werde nicht mehr im gleichen Maße geleistet wie früher. Das nehme er auch bei den deutschen Eltern wahr. "Wenn das Kind nicht will, dann will es halt nicht. Oder es wird gefragt: 'Möchtest du deine Hausaufgaben machen oder nicht?'" Damit komme man aber nicht zum Ziel.

Anderen Eltern müsste er dagegen erstmal vermitteln, warum Bildung so wichtig ist. An der Neckarschule kommt es immer wieder vor, dass Eltern ihre schulpflichtigen Kinder nicht zur Schule anmelden. "Wenn der dritte ausgemachte Termin scheitert, dann übergeben wir das Ganze an die Polizei", sagte Deffaa. Diese ermittle und mache der Familie klar, dass sie dringend zum Anmelden ihrer Kinder in die Schule kommen müsse.

Bildungsungerechtigkeit als "Never-Ending-Story"?

Für Rektor Peter Deffaa steht fest, Schule dürfe nicht versagen. "Sonst gehen die Kinder ohne Bildung nach Hause, wo sie teilweise auch keine Unterstützung erfahren." Dann rutschten sie in die staatliche Unterstützung und würden ihren Kindern wieder keine Bildung zu Teil werden lassen. "Das ist eine Never-Ending-Story", sagte er. "Deswegen müssen wir versuchen, das zu durchbrechen und diesen Kindern eine Chance für die Integration in unsere Gesellschaft zu bieten."

Deffaa hat eine ganze Reihe an Vorschlägen, um die derzeitige Situation zu verbessern. "Wir brauchen kleinere Lerngruppen für die Sprachförderung und das Lesetraining. Mit 28 Kindern, die fünf verschiedene Sprachen sprechen, haben Sie als Lehrkraft keine Chance", sagte er. Außerdem bräuchte es gut ausgebildete Lehrkräfte und einen Bildungsplan, der an der ein oder anderen Stelle etwas "entrümpelt" werden müsse.

Außerdem hofft der Rektor der Mannheimer Neckarschule ab dem kommenden Schuljahr auf Geld aus dem bundesweiten Startchancenprogramm. Baden-Württemberg erhält daraus pro Jahr 134 Millionen Euro, die nach Angaben des Kultusministeriums auf 540 Schulen verteilt werden. Das Land beteiligt sich mit der gleichen Summe. Das Geld ist für Schulen bestimmt, die besonders viele soziale und wirtschaftlich benachteiligte Kinder und Jugendliche haben.

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