Buchkritik | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023

Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens

Stand
AUTOR/IN
Silke Arning

Der Vater früh an Krebs gestorben, die Mutter Alkohol und Tabletten abhängig – für Muna sind Beziehungen von klein auf schmerzhaft und schwierig. Ihre erste große Liebe wird toxisch, ihr Partner demütigt und gängelt sie. Terézia Mora gelingt mit „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ein beeindruckend bedrückender Roman.

Das Buch steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

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Literaturpreis Die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023: Eine Art Schadensbegrenzung

Die Jury des deutschen Buchpreises hat sechs Titel auf die Shortlist des deutschen Buchpreises gewählt. Hochgelobte Werke renommierter Autorinnen und Autoren fehlen. Die engere Auswahl wirkt wie die Fortsetzung eigensinniger Jury-Entscheidungen, findet SWR2 Literaturredakteur Carsten Otte.

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Eigentlich hat Muna zu ihrem 18. Geburtstag nichts erwartet. Denn seit der Vater an Lungenkrebs gestorben ist, besteht ihr Zuhause aus einem „Totenbett, einem leeren Ehebett und einem Kinderbett“, in dem jetzt Mutter und Tochter zusammen liegen.

Doch nun hat ihr die Mutter zum Geburtstag lauter liebevolle Geschenke gemacht, nichts Wertvolles, aber eben diese Kleinigkeiten, an denen das Herz so hängt: eine alte Ledermappe und ein Füllfederhalter des Vaters oder auch den heiß begehrten Seiden-Kimono, den die Mutter als Hausmantel trägt. Eine Woche voller Glück, eine Woche Ausnahmezustand, dann haut sich die Mutter mit einer fast tödlichen Überdosis aus Tabletten und Alkohol weg.

Plötzlich taucht Magnus auf – eine Art Prinzenfigur

Beziehung – das lernt Muna von klein auf – das ist Schmerz, das ist Verlust. Es ist etwas, das gefährdet ist. Als dann plötzlich Magnus in ihrem Leben auftaucht – Lehrer und Fotograf, ein introvertierter, geheimnisvoller Typ – da ist es um sie geschehen. Die erste große Liebe, meint Schriftstellerin Terézia Mora:

„Im Grunde ist es so eine Art Prinzenfigur. Das ist nicht rational. Du bist diesem Mann verfallen. Du denkst, da müsstest Du alles aushalten oder wenn Du es nicht aushältst, wie er mit Dir umgeht, dann liebst Du ihn nicht genug. Dann warst Du nicht genug. Man muss Liebe geben, man muss überquellen vor Glück. Man muss als die Schöne das Biest sozusagen erlösen. Sie ist eine Figur, die denkt, dass das die Lösung ist.“

Muna ergattert sich eine Nacht mit ihrem Traumprinzen, der sich schon tags darauf wieder mit einem Kuss aus dem Staub macht. Es ist (der) Juli 1989. Das Leben in Munas ostdeutscher Kleinstadt ist in Bewegung geraten. Ganze Familien verschwinden; Väter, die Frau und Kind, gegen eine Geliebte im Westen eintauschen.

Muna, die Journalistin werden will, entscheidet sich für ein Literaturstudium, geht nach Berlin, London, Wien, beginnt zu promovieren, arbeitet für ein frauengeschichtliches Forschungsprojekt und verpasst nach Möglichkeit keine der gerade angesagten Theateraufführungen – eine Welt, in der sie durch ihre Mutter, Schauspielerin am Stadttheater, groß geworden ist.

Sieben Jahre später stolpert sie in einem Foyer über Magnus und nichts was war und ist, zählt mehr. Muna lässt alles liegen und stehen. Die beiden kommen wieder zusammen, doch von Anfang an bestimmt er das Geschehen. Als nach einem geplatzten Kondom eine Schwangerschaft droht, nötigt er sie, die Pille „danach“ zu schlucken.

„Ich will keine Kinder, sagte er. Weder jetzt noch irgendwann. Und weil ich mir so sehr wünschte, dass das hier kein Ende nahm, niemals, hörte ich aus diesem »irgendwann« heraus, dass wir also ab jetzt zusammen waren. Wir haben uns wiedergefunden und sind nun zusammen, ich habe also Zeit, seine Meinung zu ändern oder ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen. Wenn er sich schon mehr an mich gewöhnt haben wird. Ich konnte diese Pille also getrost nehmen.“

Beim ersten Mal funktioniert dieser Selbstbetrug noch, beim zweiten Mal muss Magnus ihr die Pille fast schon in den Mund zwingen. Wie eine düstere Musik schwingt die Gewalt im Hintergrund dieser ungleichen Beziehung mit. Terézia Mora braucht keine Eindeutigkeiten, keinen Voyeurismus, um beklemmende Szenen heraufzubeschwören.

In dieser Beziehung lauert die Gewalt

In ihrer Prosa zeigt sich die scharfe Beobachterin mit sicherem Gespür für die vielsagenden Details voller Erniedrigung und Schmerz. Wenn Muna auf Zehenspitzen hinter dem vorauseilenden Magnus her trippelt, damit die Schuhe nicht auf dem Asphalt klappern. Oder wenn er den Lippenstift auf ihrem Mund zu einer grotesken Maske verzieht. Und als es zum Äußersten kommt, entschärft Terézia Mora die Situation durch einen radikalen Perspektivwechsel:

„Ich gebe zu, dass ich anfing, wie am Spieß zu schreien. Wenn jemand das mit mir gemacht hätte, hätte ich denjenigen wahrscheinlich auch von meiner Schwelle gestoßen und die Tür vor ihm zugeknallt. Und hätte derjenige nicht genug Körperkontrolle gehabt und wäre hingefallen und hätte dann auf dem Boden sitzend, schäumend gegen die Tür getreten, hätte ich dann auch die Tür aufgemacht und hätte demjenigen mit einem Gürtel eins übergebraten, damit er durch den Schock wenigstens für einen Augenblick mit der Toberei aufhört und hört, wenn ich ihm ins Gesicht zische, dass ich ihn, wenn er sich nicht benehme, so was von auf die Straße setzen werde, dort, in der Gosse, könne er diesen Zirkus meinetwegen veranstalten, aber nicht hier!“

Diesen Perspektivwechsel habe sie auch gebraucht, um sich mit ihrer eigenen Figur, mit ihrem obsessiven Verhalten, zu versöhnen, erzählt Terézia Mora.

„Nachdem ich sie in Situationen gebracht habe, die sie gedemütigt haben und herausgefordert und in Gefahr gebracht, habe ich gemerkt, dass ich sie dafür verurteile. Also gab es eine Phase während des Schreibens, wo ich das mal kurz umgedreht habe. Ich habe aus Magnus Muna gemacht und umgekehrt und siehe da – der Effekt hat sich sofort eingestellt, dass in dem Moment, wo die Figur ein Mann war, war sie sofort ein Mensch und alles, was ihr widerfuhr, widerfuhr einem Menschen. Und das war dann akzeptabel oder nicht akzeptabel. Und dann drehte ich es wieder zurück und seitdem war ich geheilt“

Der Roman entwickelt einen gigantischen, beklemmenden Sog

Geheilt von den eigenen, unbewusst vorhandenen Denkmustern gegenüber Frauen. Mit Muna hat Terézia Mora nur eine, wenngleich sehr extreme, von Gewalt geprägte Beziehung seziert.

Aber eigentlich zeichnet sie mit ihrem Roman gleich eine ganze Landschaft fragwürdiger Beziehungskonstruktionen. Eine Vermessungsprosa, kurz und knapp, ohne falsche Sympathien oder wohlfeile Anklage.- Und darin liegt der gigantische Sog dieser Geschichte, die aufregt, die umtreibt. Los kommt man davon nicht mehr.

Platz 1 (108 Punkte) Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens

Muna lernt Magnus kennen. Es ist der Sommer 1989. Nach ihrer ersten Nacht verschwindet Magnus spurlos. Sieben Jahre später treffen die beiden sich durch Zufall wieder und werden ein Paar. Doch die Beziehung ist toxisch und voller subtiler Gewalt.

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