Ein starkes Buch über eine - auf den ersten Blick - völlig unscheinbare Frau: Das ist "Tante Martl", der autobiographische Roman der Literaturkritikerin Ursula März.
Anhand der Geschichte ihrer Patentante schildert sie ein Frauenleben der Kriegs- und Nachkriegsgeneration in der pfälzischen Provinz - zwischen Selbstlosigkeit und Eigenständigkeit. Ein sehr bewegender und zugleich humorvoller Roman.
Die Hauptfigur ist auffallend unauffällig
Unauffälligkeit, das ist noch die herausragendste Eigenschaft, mit der sich die Hauptfigur Martina, genannt Tante Martl, beschreiben lässt:
„Als ich meine Tante vor dem Spiegel stehen sah, überlegte ich, ob sie insgeheim damit rechnete, die Unauffälligkeit ihrer Person, von der sie fest überzeugt war, könne sich bis zur Unsichtbarkeit steigern.“
Und nüchtern heißt es über sie an anderer Stelle:
„Sie heiratete nie und hatte keine Kinder. Außer ein paar Jahren während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit verbrachte sie ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus in der westpfälzischen Kleinstadt Zweibrücken.“
Der Vater wünscht sich einen Stammhalter
Und doch macht Ursula März aus diesem vermeintlich kleinen, geduckten Leben eine große Geschichte. Mit einer starken Szene fängt der Roman gleich an: Martina kommt 1925 zur Welt: Wieder ein Mädchen! Die dritte Tochter!
Eine Katastrophe für den Vater, der sich endlich einen Stammhalter gewünscht hatte. In seiner Wut und Enttäuschung meldet er sie auf dem Amt als Martin an. Für eine Woche ihres jungen Lebens ist Tante Martl auf dem Papier also ein Junge.
Bis die Mutter einschreitet und den Vater zwingt, den Eintrag wieder zu ändern.
Das Gefühl des Ungewolltseins prägt Tante Martls Leben
Das ist die Urszene des Romans - und die "Martin-Geschichte", wie sie als lustige Familienanekdote immer wieder kolportiert wird, schwebt ein Leben lang als dunkle Wolke über Tante Martls Leben:
„Martl fühlte sich immer weiter an den Rand gedrängt, und unbemerkt, so glaube ich, begann sie schon damals, auf Kosten ihres eigenen Lebens an dem der anderen wie eine Souffleuse teilzunehmen, die sich im Schatten hält und aushilft, wenn die Darsteller im Text hängen bleiben.“
Die junge Frau hört nicht auf, um die Liebe ihrer Eltern zu kämpfen
Das ist die traurige Seite der Lebensgeschichte von Tante Martl: Sie ist die unscheinbare und ungeliebte Nebenfigur, die einzige der drei Schwestern, die vom rasenden Vater grausam gezüchtigt wird und die dennoch nie aufhören wird, sich die elterliche Liebe irgendwie zu ertrotzen.
Sie ist diejenige, die am Ende bei den Eltern bleibt und den Vater nach einem Schlaganfall bis zu seinem Tod aufopferungsvoll pflegt.
„Ausgerechnet die Tochter, die er am wenigsten gewollt hatte, wurde die Stütze seines Lebens.“
Aber Ursula März erzählt noch eine andere Version dieser auf den ersten Blick so unglücklichen Existenz.
Martl ging nicht den klassischen bürgerlichen Lebensweg
Nämlich die einer starken, unabhängigen Frau, die am Ende womöglich ein freieres und zumindest momentweise schöneres Leben hatte als die beiden Schwestern, die den klassischen bürgerlichen Weg der Heirat und Familiengründung gingen.
„Die Erwachsenheit, die heute als Voraussetzung eines emanzipierten Frauenlebens gilt, besaß sie, die Junggesellin aus einer pfälzischen Kleinstadt, schon zu einer Zeit, als viele deutsche Hausfrauen nicht mal ein eigenes Bankkonto hatten.“
Das Ende des Romans hält packende Wendungen parat
Unaufgeregt und lakonisch ist der Ton, wenn Ursula März vom Leben ihrer Tante berichtet, das vordergründig extrem ereignislos verläuft, das aber doch, zumal am großartigen Ende des Romans, einige spektakuläre Wendungen nimmt.
Der Roman ist gespickt mit vielen komischen Passagen
Außerdem gelingen März auch viele hinreißend komische Passagen, wenn sie etwa ihre Tante im breitesten Pfälzisch lospoltern lässt oder deren Schrullen beschreibt:
„Wenn meine Tante mir am Telefon etwas erzählen wollte, das sie gerade sehr erregte, leitete sie ihren Bericht mit einem lang gezogenen Stöhnen ein, in dessen Tonlage sich ein leicht kindliches Jammern mit dem Jaulen einer Alarmsirene mischte. Bevor sie auch nur einen Satz gesagt hatte, konnte ich anhand der Intonation des Stöhnens schon erahnen, was ihr auf dem Herzen lag.“
Der Roman zeigt, wie prägend das System Familie sein kann
Man erfährt viel über die unterschiedlichsten Arten des Schweigens einer kriegstraumatisierten Generation, auch darüber, wie sehr das System Familie das eigene Leben bis an den Rand zur Tragik prägen kann.
Wer sich heute als Frau angesichts der unzähligen Wahlmöglichkeiten gelegentlich überfordert fühlt, der wird nach der Lektüre von "Tante Martl" auf jeden Fall leiser klagen.
Bettina Hoppes Lesung des Romans „Tante Martl“ in der SWR Reihe „Fortsetzung folgt“ erscheint am 11. August 2020 im USM Verlag als Hörbuch.
SWR2 lesenswert Magazin Manuskript - 10.11.2019 - Buchkritik Ursula März - Tante Martl