Literaturpreis

Die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023: Eine Art Schadensbegrenzung

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AUTOR/IN
Carsten Otte
SWR2 Literaturkritiker Carsten Otte (Foto: SWR, Georg Bielfeldt)

Die sechs Bücher der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 stehen fest. Dabei sind Terézia Mora, Necati Öziri, Anne Rabe, Tonio Schachinger, Sylvie Schenk und Ulrike Sterblich. Hochgelobte Werke renommierter Autorinnen und Autoren fehlen. Die engere Auswahl wirkt wie die Fortsetzung eigensinniger Jury-Entscheidungen, findet SWR2 Literaturredakteur Carsten Otte.

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Literaturpreis Tonio Schachinger erhält für den Roman „Echtzeitalter“ den Deutschen Buchpreis 2023

Der österreichische Autor Tonio Schachinger erhält für „Echtzeitalter“ den Deutschen Buchpreis 2023. Auf erzählerisch herausragende und zeitgemäße Weise verhandle der Text die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Literatur, so die Jury.

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Auffällig viele Debüts auf der Longlist

Auch wenn der Deutsche Buchpreis keine vornehmlich literarische Auszeichnung, sondern eher eine Marketingveranstaltung ist, um – wie es in den Statuten heißt – „über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autor*innen, das Lesen und das Leitmedium Buch“, sind die vier Wochen zwischen Longlist- und Shortlist-Entscheidung nicht nur für den Literaturbetrieb, sondern auch fürs breite Publikum interessant. In dieser Zeit werden in den Feuilletons auch mal abseitige Romane besprochen, allein weil sie das Glück hatten, von der siebenköpfigen Jury ausgewählt worden zu sein.

In diesem Jahr standen auffällig viele Debüts auf der langen Liste, einige hochgelobte Werke renommierter Autorinnen und Autoren wurden nicht berücksichtigt.

Eigensinnige Entscheidungen

Es gibt für solche Entscheidungen immer gute und weniger gute Begründungen, in diesem Jahr erschien die Auswahl jedenfalls von dem Willen geprägt zu sein, Texte zur Diskussion zu stellen, die ansonsten vielleicht übersehen worden wären.

Bei der Lektüre der nominierten Arbeiten, insbesondere im Vergleich zu herausragenden Werken aus den Frühjahrs- und Herbstprogrammen, bestätigte sich dann leider die Vermutung, dass der Eigensinn der Jury-Mitglieder in diesem Jahr dem Werbeversprechen des Buchpreises eher abträglich war.

Nicht nur Maxim Biller fehlt

Um nur ein Beispiel zu nennen: „Mama Odessa“, das neue Prosawerk von Maxim Biller ist eine witzige, bittere, politisch und kulturell relevante, eine atemberaubend gebaute Familiengeschichte mit unerhörten Wendungen, die nun wirklich in allen Medien gefeiert wurde.

Wie konnte dieses jüdische Drama, diese nicht endende Flucht vor antisemitischer Gewalt, dieser hochaktuelle Blick auf sowjetischen Zerstörungswillen bloß ignoriert werden? Warum wurde Birgit Birnbachers grandioser Text „Wovon wir leben“ über eine Arbeitsutopie in der Provinz nicht nominiert?

Stattdessen gab es mit Angelika Klüssendorfs Roman „Risse“ einen Longlist-Titel, der mit wenigen Änderungen vor Jahren einmal als Erzählungsband unter einem anderen Titel veröffentlicht worden war.

Eine hitzige, aber unerhebliche Diskussion um den nominierten Roman „Gittersee“ von Charlotte Gneuß fand auch noch statt. Es kursierte eine vertrauliche Liste mit Korrekturvorschlägen von Schriftsteller Ingo Schulze, die im Auftrag des Verlags erstellt worden war, leider etwas spät auf kleinere Sachfehler im Text hinwies und kurioserweise den Weg zur Jury fand.

Shortlist als Schadensbegrenzung

Für die Shortlist kam die durchweg gelobte Prosa von Gneuß dann nicht mehr in Frage. So liest sich die kurze Liste einerseits wie die Fortsetzung eigenwilliger Entscheidungen, anderseits wie eine Art Schadensbegrenzung.

In der engeren Wahl stehen nun Terézia Mora mit der toxischen Beziehungsgeschichte „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ (die den Buchpreis 2013 schon mal erhalten hat), Necati Öziri mit der Familien- und Migrationsgeschichte „Vatermal“, Anne Rabe mit dem DDR-Erinnerungsbuch „Die Möglichkeit von Glück“, Tonio Schachingers Internat- und Computerspielroman „Echtzeitalter“, Sylvie Schenks Mutterbuch „Maman“ sowie Ulrike Sterblichs „Drifter“, ein Genremix aus Freundschaftsgeschichte, Medienkritik und abgedrehten Verschwörungserzählungen.

Alles dreht sich um die Herkunft

Die Texte der Shortlist sind ästhetisch nicht auf einen Nenner zu bringen; inhaltlich überwiegen Kindheits- und Familiengeschichten. Die Wirkmacht sozialer und politischer Prägungen und die Folgen einer gewaltsamen Vergangenheit für zukünftige Entscheidungen sind vorherrschende Themen der nominierten Bücher.

Da Anne Rabe sich mit dem in letzter Zeit wieder vieldiskutierten Thema befasst, wie die Vergangenheit der DDR in die Gegenwart ragt, hat „Die Möglichkeit von Glück“ gute Chancen auf den Buchpreis. Leider liest sich dieser Text streckenweise wie eine Handlungsanleitung für Vortragsreisende in Sachen Vergangenheitsbewältigung.

Ob mit dem Deutschen Buchpreis tatsächlich so etwas wie der „Roman des Jahres“ prämiert wird, ist in diesem Jahr fraglicher denn je.  

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