„Auf den ersten Blick ist 'Echtzeitalter' ein Schulroman“, heißt es in der Jury-Begründung. Auf den zweiten Blick sei das Buch allerdings viel mehr als das: Ein Gesellschaftsroman. „Mit feinsinniger Ironie spiegelt Schachinger die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart: Aus gebildeten Zöglingen spricht die rohe Gewalt. Die Welt der Computerspiele bietet einen Ort der Fantasie und Freiheit“, heißt es weiter.
Zum zweiten Mal stand Schachinger auf der Shortlist, zuletzt vor vier Jahren mit seinem Debütroman „Nicht wie ihr“.
Die Entscheidung ist eine Überraschung. Andere Shortlist-Romane, die aktuelle politische Debatten aufgreifen, sind nämlich leer ausgegangen. Der 1992 in Neu Delhi geborene und heute in Wien lebende Schriftsteller Tonio Schachinger hat mit „Echtzeitalter“ ein Prosawerk geschrieben, das vor allem literarisch überzeugt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Till, der seine Schulzeit auf einem ehrwürdigen Wiener Eliteinternat Marianum verbringt.
Allein schon das imposante Gebäude schindet Eindruck, und das soll wohl auch so sein. Es handelt sich um eine Art Kaderschmiede für Kinder aus gutem Hause, die mit – so die Jury – „reaktionärem Drill und bildungsbürgerlichen Idealen“ auf eine erfolgreiche Zukunft vorbereitet werden. Dafür soll zum Beispiel der Rohrstock-Pauker Dolinar sorgen, der seltsame Vorstellungen von einem guten Deutschunterricht hat.
Auf die Zwischentöne kommt es an
Seine drei goldenen Regeln lauten: „Nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist.“ Der Erzähler nähert sich dieser aus der Zeit gefallenen Figur aber keineswegs nur mit Geringschätzung. Auf kuriose Weise mögen die Schüler den überdreht altmodischen Dolinar auch. „Echtzeitalter“ ist eine Prosa, in der es auf die Zwischentöne ankommt.
Till betrachtet die Schule ohnehin als einen Ort, der nicht relevant ist für sein Leben. Um in der Deutschstunde möglichst nicht aufzufallen, lernt er die hochkulturellen Bücher wie die Erzählung „Brigitta“ von Adalbert Stifter einfach auswendig. Ansonsten verbringt er seine Freizeit mit Computerspielen, die dem Zögling tatsächlich ein virtuelles Reich der Freiheit bieten. Vor allem das Echtzeitstrategiespiel „Age of Empires 2“ hat es ihm angetan.
Veritable Gesellschaftssatire eines gewitzten Autors
Ohne dass seine Familie oder auch die Mitschüler es bemerken, wird er schon bald zu einem der erfolgreichsten Spieler weltweit. Aus dem klassischen Internatsroman hat sich dann eine veritable Gesellschaftssatire entwickelt, in deren Zentrum immer wieder auch der lästig reale Wohnort des Protagonisten verspottet wird: „Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte.“
Schachinger klingt manchmal wie Thomas Bernhard, und doch ist „Echtzeitalter“ eine zeitgemäße und eigenständige Prosa, die mit allen Formen des Humors sprachlich zu spielen weiß. Der gewitzte Autor erzählt nicht nur das langsame Erwachsenwerden eines betont angepassten Jugendlichen, sondern verhandelt auch – wie die Jury völlig zutreffend formuliert – „den gesellschaftlichen Ort der Literatur“. Das Votum für „Echtzeitalter“ lässt sich damit auch als Absage an eine viel zu oft prämierte Debattenprosa verstehen. Die Jury hat sich für einen so unterhaltsamen wie klugen Roman entschieden.
Buchpreis-Gewinner „Echtzeitalter“ in der Diskussion der SWR2 Bestenliste:
172 Romane gingen ins Rennen um den Preis
Mit dem Deutschen Buchpreis zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels jährlich zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den deutschsprachigen „Roman des Jahres“ aus.
172 Romane sind 2023 ins Rennen gegangen. Insgesamt haben sich 111 deutschsprachige Verlage an dem Preis beteiligt.
Der Preis ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert: Der oder die Preisträger*in erhält 25.000 Euro, die übrigen fünf Autor*innen der Shortlist erhalten jeweils 2.500 Euro.
Der Deutsche Buchpreis wird seit 2005 verliehen und bedeutet eine große Aufmerksamkeit für die ausgewählten Titel. Der Weg zum Buchpreis verläuft über ein mehrstufiges Verfahren: Im August hatte die Jury eine Longlist mit 20 Titeln bestimmt, die Shortlist wurde auf 6 Romane reduziert.
Im vergangenen Jahr 2022 wurde Kim de l'Horizons Debütroman „Blutbuch“ ausgezeichnet.