Buchkritik

Lucía Lijtmaer – Die Häutungen

Stand
AUTOR/IN
Victoria Eglau

Zwei Frauen, die eine in Barcelona, die andere in Salem in Nordamerika. Vierhundert Jahre trennen die beiden. Ihr Schicksal könnte nicht unterschiedlicher sein, aber gemeinsam haben sie ihre Flucht, ihre Rebellion, ihren Kampf um Selbstbehauptung. Davon erzählt, mitreißend und ironisch, Lucía Lijtmaer in ihrem Roman „Die Häutungen“.

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Zwei Frauen fliehen vor dem Schmerz und suchen Heilung. Vier Jahrhunderte trennen die beiden. Lucía Lijtmaer erzählt in ihrem Roman Die Häutungen zwei Parallelgeschichten. Nur auf den ersten Blick haben sie nichts miteinander zu tun. In sich abwechselnden Kapiteln lernen wir die zwei Protagonistinnen kennen.

Zunächst eine namenlose Ich-Erzählerin aus Barcelona, die von ihrem Partner, einem ziemlichen Macho, verlassen worden ist. Gleich im ersten Satz erfahren wir von den Selbstmord-Gedanken der Frau Ende dreißig. Und wenn sie nicht daran denkt, sich umzubringen, phantasiert sie vom Untergang ihrer Stadt:

Depressiv, wie ein Zombie bewegt sich die verlassene Frau durch die Straßen ihrer Heimatstadt. Überall lauern Erinnerungen: An unbeschwerte Momente mit Freundinnen, an glückliche Liebesaffären, aber auch an die toxische Beziehung, in der sie sich nach und nach selbst verlor. Die Frau dröhnt sich mit Pillen zu, weil sei nicht schlafen kann, geht nicht zur Arbeit und hält es schließlich nicht mehr aus in Barcelona, sie taucht in der ihr fremden Metropole Madrid unter.

Eine Landbesitzerin im puritanischen Salem

Vier Jahrhunderte zuvor, im 17. Jahrhundert, ist auch die Engländerin Deborah Moody auf der Flucht: Unter anderem vor den Schulden, die ihr gerade verstorbener Mann angehäuft hat. Die tiefgläubige Frau besteigt mit ihrem Sohn ein Schiff und reist in die neue Welt, lässt sich in Salem nieder, im heutigen US-Bundestaat Massachusetts.

Deborah Moody hat es wirklich gegeben, sie ist bekannt als erste Landbesitzerin in den britischen Kolonien und als erste Frau, die dort eine Siedlung gründete. Eine für ihre Zeit emanzipierte, unabhängige Frau, die auf subtile, geschickte Weise gegen die mächtigen Pastoren rebelliert, die die puritanische Gemeinschaft kontrollieren.

Salem war für mich wie ein leeres Blatt, das ich beschreiben musste, eine weiße Leinwand, auf die ich meine eigene Zukunft zeichnen konnte, wenn auch nicht nach Belieben, da ich eine Reihe von Vorgaben befolgen musste. Die Sünde lauere allenthalten, sagten sie. Und doch hatten uns die Gründerväter einen dünnen Faden gegeben, an dem wir ziehen konnten. (…) Uns Frauen überließen sie den häuslichen Bereich und die Aufgabe, einander Moral und Glauben zu predigen. Und entsprach das nicht unserer Vorstellung vom Paradies?

Romanautorin Lucía Lijtmaer fiktionalisiert Deborahs Geschichte. Sie erzählt von ihrer unglücklichen Ehe – damals, in der Alten Welt – und davon, wie in der Männer-dominierten englischen Kolonie so etwas wie Sisterhood entsteht: Frauen, die sich im Verborgenen treffen und solidarische Netze spannen, sich unterstützen, sich Mut und Trost zusprechen.

Am Ende flieht Deborah dann noch einmal: Vor religiöser Intoleranz und der Unterdrückung des Patriarchats.

Roman über weibliche Selbstbehauptung und Rache

Lucía Lijtmaer hat einen Roman über weibliche Selbstbehauptung und Rache geschrieben. Das verbindet die beiden parallel erzählten Geschichten über Raum und Zeit hinweg. Deborah Moody führt den Männern durch die Gründung ihres eigenen Dorfes vor, dass sie als Frau ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen kann.

Lijtmaers andere Romanheldin, die Frau aus Barcelona, überwindet ihren Trennungsschmerz, als sie sich mit einem bösen, aber genialen Streich an ihrem Ex-Partner rächt. Nicht weniger als dessen Karriere als aufstrebender Jungpolitiker könnte dadurch ins Wanken geraten.

 Beide Handlungsstränge sind nicht miteinander verknüpft, sie treffen sich erst am Ende, aber lesen sich jeder für sich höchst interessant und unterhaltsam. Es ist originell und glänzend gelungen, wie sich die Autorin in Deborah und ihr Leben in der puritanischen Gemeinschaft hineinfühlt und denkt. Deborah erzählt ihre Geschichte übrigens ihrem Gott, mit einer immer selbstbewussteren Stimme. Die verlassene Frau dagegen wendet sich an ihren Ex.

Kurioserweise ist sie, die sich dem Mann in der Beziehung immer mehr untergeordnet hat und ohne ihn in eine tiefe Krise stürzt, längst nicht so mutig und unabhängig wie Deborah. Und die Protagonistin aus dem Hier und Jetzt ist zudem ganz allein, ohne weibliche solidarische Netze.

Aufschlussreicher und bissiger Blick auf Barcelona

Indem sie die Figur aus dem 17. Jahrhundert als emanzipierter beschreibt als die Frau aus der Gegenwart, kritisiert Lucía Lijtmaer auf subtil-elegante Weise, dass es mit weiblicher Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und auch Sisterhood heutzutage oft noch nicht so weit her ist.

Sprachlich mitreißend, oft ironisch und bissig, wirft der Roman Die Häutungen auch einen aufschlussreichen Blick auf Lijtmaers Heimatstadt Barcelona, auf urbane Arm-Reich-Kontraste, den Touristen-Overkill, Gentrifizierung und scheinheilige progressive Politiker. Ein kluger und im besten Sinne feministischer Roman und nicht umsonst ein großer literarischer Erfolg in Spanien.

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