Buchkritik

Liao Yiwu – Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs

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AUTOR/IN
Katharina Borchardt

Auch zu Zeiten Mao Zedongs wurde geliebt. Vielleicht sogar besonders heftig, schließlich waren nie zuvor in der chinesischen Geschichte so viele Jugendliche unterwegs: als Rote Garden in revolutionärer Mission und auch als Gebildete Jugend zur Umerziehung auf dem Land. In seinem neuen Roman „Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“ geht’s wüst zu. Als wäre auch die Liebe ein purpurrotes Schlachtfeld.

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Junge Liebe im Gepäcknetz

Zhuang Zigui lässt nichts anbrennen. Schon auf der ersten Buchseite zieht sich der Siebzehnjährige ein hübsches Mädchen hoch ins Gepäcknetz. Denn nur da ist noch Platz in diesem hoffnungslos überfüllten Zug, der hunderte, vielleicht tausende Rotgardisten aus der Provinz Sichuan nach Peking bringt. Wir sind im Jahr 1966. Die Kulturrevolution hat begonnen. Die jungen Revolutionäre wollen auf den Platz des Himmlischen Friedens, denn da wird der Vorsitzende Mao zu ihnen sprechen.

So verbrachten sie drei Tage und Nächte, Kopf an Kopf auf der Gepäckablage, lediglich wenn sich Hunger meldete oder der Bauch schmerzte, stiegen sie hinunter, zum Essen oder zum Klo. Über die Rundfunklautsprecher kam nichts als Lieder mit Worten des Vorsitzenden Mao, rund um die Uhr, was auf Zhuang Zigui extrem einschläfernd wirkte, das Mädchen jedoch, das irgendwas mit „hong“, „rot“, hieß, summte die Melodien begeistert mit, wobei ihre dünne Stimme allerdings nicht kräftig genug war, um gegen die imposanten Marschrhythmen anzukommen.

Die zweite Seite des neuen Romans von Liao Yiwu – und schon sind die großen Themen gesetzt: Liebe, Essen, Klo und Mao. Dazu: ein Yin-Yang-Mix aus Trauer und Furor. So ist sie, „Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“, in der qua Situationskomik, Sozialkritik und Traumpoesie „Der Traum der roten Kammer“ ebenso nachwirkt wie „Die Räuber vom Liang-Schan-Moor“. Wer es noch nicht gemerkt hat, kann es hier nicht mehr übersehen: Liao Yiwu schreibt die chinesischen Klassiker weiter, und zwar ausgehend von der jüngeren chinesischen Geschichte.

Liao Yiwu schrieb den Roman im Gefängnis

Dass es seinen neuen Roman überhaupt gibt, ist ein großes Glück. Denn er schrieb ihn größtenteils bereits 1992 im Gefängnis und schmuggelte das Skript damals portionsweise nach draußen. Später bastelte er die Teile zusammen und machte einen Roman daraus. Das chinesische Original erschien 2016 in Taiwan. Das Buch war also bereits fertig, bevor Liao Yiwu seinen zuletzt erschienenen Roman „Wuhan“ über den Ausbruch der Pandemie schrieb.

Jetzt erzählt er die unheilvolle Dekade zwischen 1966 und 1976, in der die Rotgardisten mit ihren roten Büchlein nach Peking pilgerten, in der sie Eltern und Lehrer so sehr in Grund und Boden kritisierten, dass Mao die wildgewordene Jugend irgendwann zurückpfiff und zur Umerziehung aufs Land schickte. Auch Zhuang Zigui ist dabei. Eine Figur dieses Namens tritt übrigens auch in Liaos „Wuhan“-Roman auf. Darin ist Zhuang Zigui ein in Berlin exilierter Schriftsteller, Liao Yiwu selbst also sehr ähnlich. In „Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“ ist Zigui anfangs 17 Jahre alt, also etwa zehn Jahre älter als der reale Liao. Als erstes verliebt sich Zigui in Honghong, das Mädchen aus dem Gepäcknetz. Als ihr etwas ins Auge fliegt, leckt er ihr das Stäubchen sorgsam weg.

Auf diese Weise konnte er ihr Gesicht aus nächster Nähe betrachten, die Poren waren fein und sehr dicht, das zitronenfarbene Mondlicht lag wie eine Schicht Sandgold auf ihm. Ihr Atem war heiß, in den Nasenlöchern wimmelte es wie in Ameisennestern. Dann war ihr Auge gereinigt, und er wollte seine Zunge schon zurückziehen, als diese von ihren bebenden Lippen festgehalten wurde. Sie saugten aneinander, als kämpften sie um etwas oder wollten sich den Körper des jeweils anderen einverleiben.

Dass Revolution aphrodisierend wirkt, ist altbekannt. Honghong wird nicht Ziguis einzige Freundin bleiben. Als landverschickter Jugendlicher lernt er später die eigenwillige Erya kennen, dann die stolze Revolutionärin Yang Dong, der er nach Tibet folgt. Frauen machen ihn wild. Selten so turbulente Sexszenen gelesen wie bei Liao Yiwu. Was für ein wüst-poetisches Erzähltalent!

Lachen gegen den Schrecken unter Mao Zedong

Überhaupt gibt es viel zu lachen in diesem Buch, in dem die Heroik der Revolution oft in missgeschickliche Pipi-Kacka-Szenen überführt wird. Auch wenn sich die 450-Seiten-Geschichte manchmal etwas zieht, nutzt sich ihr Witz an keiner Stelle ab. Das liegt auch an der wieder mal superfitten Übersetzung von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann: Ob zart oder rabiat – die beiden treffen jede Tonlage und formen viele Passagen zu großartigen Witzen. Etwa wenn Zigui der stolzen Yang Dong gegenüber zudringlich wird.

Eine Leidenschaft, diese Fassade zu zerstören, durchströmte seine Glieder, er kniete sich auf, der entscheidende Augenblick, seine Seele, sein Körper, die immer auf der Erde herum gekracht waren, ragten geradewegs in ein himmlisches Paradies, Fahnen wurden geschwenkt und man rief: „Lang lebe Zhuang Zigui!“

Da fiel er mit einem gewaltigen Schlag aus Himmel und Bett, krachte in das überall auf dem Boden verstreute Essen, zog sich ein paar Porzellansplitter in den nackten Hintern, blutete wie ein Schwein und von seinem pfeilrechten Glied hingen Fleisch und Fisch, von seiner Eichel ein Büschel Glasnudeln.

Witzig. Aber ist die ja doch ziemlich entsetzliche Kulturrevolution bei Liao Yiwu bloß eine bunte Lach- und Sachgeschichte? Einerseits ja: Es gibt tatsächlich viel zu lachen (und auch zu weinen), und sachlich umhäkelt ist Zhuang Ziguis Geschichte auch. Liao hat sein leicht surreales Gefängnisskript mit historischen Fakten angereichert und realitätskompatibler gemacht, was die leidenschaftliche Erzählstimme passagenweise aber auch ein wenig abkühlen lässt. Trotzdem ist kein Lehrbuch draus geworden. Dazu sind Zhuang Ziguis Abenteuer zu überdreht. Denn es geht hier ja vor allem darum, die Traumata der Kulturrevolution mit wüstem Gelächter zu sprengen. Ein fixer Riesenböller ist „Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“ dabei aber nicht, eher eine Batterie Ladycracker: tausend wüst-witzige Schläge, die einer Gruseldekade Feuer unterm Hintern machen.

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