Buchkritik

Johannes Groschupf – Die Stunde der Hyänen

Stand
AUTOR/IN
Sonja Hartl

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Ein polnischer Messias, ein schüchterner Brandstifter, eine entschlossene Polizistin und eine Journalistin mit einem totalen Gesichtergedächtnis treffen in Berlin-Kreuzberg aufeinander. Johannes Groschupfs packender und hochmoderner Großstadtthriller "Die Stunde der Hyänen" ist eine fesselnde Milieustudie.
Rezension von Sonja Hartl.

Suhrkamp Verlag, 265 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-518-47300-9

Radek Malarczyk ist ganz unten angekommen. Vor einem halben Jahr hat der polnische LKW-Fahrer eine junge Radfahrerin totgefahren. Seither besäuft er sich jeden Tag, dann legt er sich in Berlin-Kreuzberg in seinen VW-Bus schlafen. Doch eines Nachts wird er aus seinem trunkenen Schlaf gerissen: Sein Bus brennt. Gerade so eben schafft es Radek aus dem lodernden Auto, rollt sich auf den Bürgersteig, rappelt sich auf und sieht einen jungen Mann, der die Flammen anstarrt und masturbiert. Der Brandstifter – zweifellos. Der Masturbateur haut ab. Radek kommt ins Krankenhaus und sieht diese Nacht fortan als seine Wiedergeburt an: Als polnischer Messias wird er von nun an in Johannes Groschupfs „Die Stunde der Hyänen“ durch Kreuzberg ziehen.

Ein fulminanter Kriminalroman, in dem die Polizistin Romina Winter, die neu im Branddezernat ist, von den alten Kollegen nicht akzeptiert wird und sich unbedingt beweisen will. Sie arbeitet später mit der Journalistin Jette Geppert zusammen, die Radek in der fiktiven Berliner Tagespost porträtiert und berühmt macht. Sie ist Super-Recognizerin und erkennt jedes Gesicht wieder, das sie einmal gesehen hat. Diese Fähigkeit wird bei den Ermittlungen helfen, macht sie aber nicht zur Superheldin. Die vierte zentrale Figur ist der Brandstifter selbst. Seine Identität ist allerdings für die Lesenden schon auf Seite 31 geklärt. Er heißt Maurice Jaenisch, steht kurz vor Abschluss seiner Ausbildung als Briefträger, wohnt noch zuhause, zündet seit Monaten nachts Autos an und will sich mit Britta verloben. Britta ist wie er bei einer religiösen Sekte, die unweigerlich an die Zeugen Jehovas erinnert. Eine stille junge Frau.

Nicht die Tätersuche oder dessen Motive erzeugen die Spannung in „Die Stunde der Hyänen“ – vielmehr ist es die Frage: Was passiert als nächstes? Romina sucht nachts auf eiskalten Straßen nach dem Brandstifter, Jette wird von ihrem Freund geschlagen, Radek will die Welt retten, und Maurice trifft seinen Vater wieder, der von seiner Gemeinde gemieden wird. Mit ihnen treibt man durch das winterliche Kreuzberg, will wissen, ob und wie sie durchkommen.

Die eigentliche Hauptfigur ist aber Berlin. „Die Stunde der Hyänen“ ist Johannes Groschupfs dritter Thriller und nach „Berlin Prepper“ und „Berlin Heat“ abermals ein höllisch guter Trip durch die Hauptstadt. Groschupf hat lange als Reisejournalist gearbeitet, er hat ein Blick für Orte und ihre Absonderlichkeiten. Wenn der polnische Messias etwa durch die Kneipen zieht, um vor Alkohol zu warnen, steht man mit ihm mitten im Eck-Lokal „Zum Goldenen Hahn“ und ruft mit ihm die Sperrstunde aus. Ebenso atmet man erleichtert auf, wenn Britta in der Gemeindeküche der Sekte eine kurze Pause vor den sie stets kontrollierenden Augen des Gemeindevorstehers hat. Jede Beschreibung, jedes Wort sitzt.

Groschupf taucht tief ein in die verschiedenen gesellschaftlichen Milieus, die in der Hauptstadt nebeneinander leben und spürt den Verwerfungen sehr genau nach. Als Protest auf die brennenden Autos bildet sich eine Bürgerwehr – ausgerechnet im linken Kreuzberg sorgen selbsternannte Wachposten für Sicherheit, kontrollieren Menschen auf der Straße, pöbeln und hetzen gegen vermeintliche Ausländer, Linke und grüne Gutmenschen. Damit treffen sie einen Nerv bei den Gentrifizierern, die einst nach Kreuzberg gezogen sind, weil es hip und alternativ ist, die nun aber um den Wert ihrer Eigentumswohnung fürchten.

Aber Kreuzberg ist mehr als Gentrifizierer und Linke, das weiß Groschupf – und blickt überall sehr genau hin: in vermeintlich tolerante Mietergemeinschaften, die länger über Abstimmungsverfahren als über konkrete Anliegen diskutieren – oder in eine religiöse Sekte. Dort predigen Männer den Glauben, sprechen Gebete, warnen vor Satan, der die Stadt beherrscht – und missbrauchen zweimal die Woche im Hinterzimmer zwölfjährige Mädchen aus ihrer Gemeinde, um den – wie sie es ausdrücken – „Unflat der Frauen abzuwaschen“.

Es gibt keine strahlenden Helden in diesem modernen Großstadtthriller – wer in Berlin nicht aufpasst, geht vor die Hunde. „Hyänen können Angst riechen“ heißt es da einmal. Groschupfs Figuren sind mal auf der Jagd, mal auf der Flucht. Seit Pieke Biermann hat niemand so souverän und präzise über Berlin geschrieben wie Johannes Groschupf. „Die Stunde der Hyänen“ ist spannend, überraschend, politisch und absolut auf der Höhe der Zeit.

(Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.)

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Sonja Hartl