Buchkritik

François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo

Stand
AUTOR/IN
Max Bauer

François Schuiten ist nicht nur Comiczeichner, sondern auch Designer. Die U-Bahn-Station „Arts et Métiers“ in Paris hat er entworfen. Dort fühlt man sich unter Bullaugen-Fenstern und gewaltigen Zahnrädern wie im U-Boot „Nautilus“ von Kapitän Nemo. Und im neuesten Werk von François Schuiten und dem Comicautor Benoît Peeters erlebt Kapitän Nemo tatsächlich ein neues Abenteuer. An Bord eines U-Boots, das halb Maschine, halb lebendige Riesenkrake ist. Eine Hommage an Jules Verne und zugleich ein kritischer Blick in die Zukunft.

Audio herunterladen (6,5 MB | MP3)

Aus dem dunklen Ozean steigt dieses Wesen auf, aus der Tiefe eines Meeresgrabens. Acht meterlange Tentakeln und davor ein riesiges leuchtendes Auge. Doch dieses Auge ist kein Auge, nur ein Bullauge. Und der vordere Teil des Wesens mit dem Bullauge ist auch kein riesiger Krakenkopf, sondern ein stählerner U-Boot-Rumpf.

Dieser seltsame Oktopus ist wie ein neues Unterwasserboot, eine zweite Nautilus… Ein Nautipus, genau!

Als ob ein riesiger Oktopus die Nautilus, das legendäre Boot des Kapitän Nemo halb verschluckt hätte, so sieht es aus. Aber statt des ewigen Kampfes der Technik gegen die Natur, haben sich Technikmonster und Meeresungeheuer hier miteinander verbunden, sind eins geworden, eine lebende, denkende Maschine.

Die wundersame Reise des Nautipus – halb Oktopus, halb Nautilus

Mit ganzseitigen Zeichnungen erzählen Schuiten und Peeters von der Reise des Nautipus, durch Friedhöfe riesiger gesunkener Schlachtschiffe am Meeresgrund, aber auch an Land, durch Landschaften und Städte, die fremd und vertraut zugleich erscheinen: Parallelwelten aus den Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts.

Wo sind wir jetzt? Wir haben den Ozean schon vor Tagen verlassen. Der Nautipus kommt lange Zeit ohne Wasser aus, und er bahnt sich seinen Weg durch vielfältige, sogar feindliche Umwelten. Der Nautipus scheint genau zu wissen, wohin er will.

Ganzseitig illustriert mit feinem Strich, der die atmosphärischen Radierungen aus den alten Jules Verne-Bänden zum Vorbild hat, findet die Reise des Nautipus jeweils rechts auf jeder Doppelseite statt. Und links sehen wir den, der diese Reise erlebt und erzählt, eingeschlossen in den Nautipus.

Kapitän, ich war Kapitän… ich bin Kapitän Nemo… Die Nautilus… versunken… Der Vulkan… Die Lincoln-Insel… zerstört… vernichtet… Wie durch ein Wunder bin ich dem Tod entronnen.

Kapitän Nemo verwandelt sich in Jules Verne

Der Malstrom in „20.000 Meilen unter dem Meer“, der Vulkanausbruch in „Die geheimnisvolle Insel“ – Kapitän Nemo hat sie doch überlebt. Und während der Nautipus ihn durch die fremd-vertrauten Welten von Schuiten und Peeters trägt, erzählt Kapitän Nemo uns noch einmal seine Geschichte. Von seiner indischen Herkunft, der Revolte gegen die britische Kolonialmacht, der Ermordung seiner Familie.

Mein Vaterland war unterjocht, mein Volk versklavt. Mein Leben auf der Erde hatte keinen Sinn mehr. Ich entschied mich für die Tiefen des Meeres, wohin mir niemand folgen konnte. Damals wurde ich zu Nemo… Kapitän Nemo… Mein zweites Leben begann.

Während Kapitän Nemo in den Parallelwelten seiner Erinnerungen versinkt, uns seine Abenteuer nacherzählt, nähert sich der Nautipus beharrlich seinem Ziel.

"Ich spürte, auch ich war am richtigen Ort angekommen. Der Nautipus hielt auf eine riesige Halle zu, als wäre seine Reise zu Ende. Als hätte er seinen Platz gefunden. Nur mit allergrößter Mühe konnte ich den Nautipus verlassen. Aber ich verspürte die Dringlichkeit. Sobald ich an Land war, erstarrte der Nautipus, als wäre er versteinert." Der Nautipus wird zur Statue und Kapitän Nemo ist angekommen, in Amiens, dem Wohnort von Jules Verne nördlich von Paris. In seiner Tasche findet er den Schlüssel zum Haus des Schriftstellers und die Heimkehr vollendet sich.

Nichts schien verändert. Ich wusste, weshalb ich zurückgekommen war. Die Möbel, die Gemälde, alles war mir vertraut. Kein Zweifel, hier war ich zu Haus.

Vor dem Porträt von Jules Verne verharrt Nemo. Er hat ganz die Gestalt des Schriftstellers angenommen, setzt sich an den Schreibtisch und bringt dann die ersten Sätze des Romans aufs Papier, der Jules Verne berühmt gemacht hat: „20.000 Meilen unter dem Meer“.

Keine bloße Hommage, sondern ein Traum von der Moderne

Für das Jules Verne-Haus in Amiens hat François Schuiten ein Wandgemälde geschaffen. Der Nautipus ist der Entwurf für eine Statue am Wohnort des Dichters. Ist also auch dieser Comic nicht mehr als ein nostalgischer Blick zurück, eine ehrfürchtige Hommage an den Vater der modernen Science-Fiction?

Nein, diese Comic-Geschichte von Kapitän Nemo, der zu Jules Verne wird wie das U-Boot Nautilus zum Hybrid-Wesen Nautipus, ist ein Comic-Essay, der klug die dunklen Seiten der Moderne auslotet. Denn neben dem Jules Verne mit einem ungebrochenen Zukunfts-Optimismus, gibt es den, der nicht nur U-Boot und Mondreise, sondern auch die Atom-Bombe vorausgesehen hat. Der fortschrittsoptimistische Verleger von Jules Verne mochte den düsteren, manisch-depressiven Kapitän Nemo nicht. Doch Jules Verne hielt an seiner komplexesten Figur fest. An diesen Jules Verne erinnern Schuiten und Peeters.

Die Abenteuerreise, auf der Jules Verne und Kapitän Nemo eins werden, bleibt also nicht eine postmoderne Spielerei, sondern wird zum kritischen Spiel mit verschiedenen Ebenen. Denn die Kunst-Figur Nemo-Jules Verne spiegelt besonders auch unsere Zeit. Nemos Technologiegläubigkeit ist so voller Allmachtsfantasien wie die von Elon Musk. Und das Hybrid-Wesen Nautipus erinnert als Krake mit künstlicher Intelligenz an die künstliche Intelligenz, der wir Menschen immer mehr unsere natürliche Intelligenz ausliefern.

Schuiten und Peeters sind kritisch mit der technisch-kalten Moderne, aber sie bewahren sich einen modernen Traum: Der von der Menschheit verstoßene Kapitän Nemo kann doch nach Hause zurückkehren, zu einem Leben mit einer Lebensgeschichte. Und der unbeirrbare Weg des Roboter-Kraken Nautipus birgt den Funken utopische Hoffnung, dass die Technik friedlich von der Natur lernt, ohne die Natur dabei zu zerstören.

Gewiss, manche Menschen laufen bei seinem Anblick davon. Andere wiederum heißen ihn wie ein legendäres Wesen willkommen. Der Nautipus kann zwar bedrohlich wirken, aber ich habe nie erlebt, dass er jemanden angreift, der sich friedlich nähert.

Mehr Graphic Novels

SWR2 lesenswert Kritik Anke Feuchtenberger – Genossin Kuckuck

Anke Feuchtenberges neue Graphic Novel porträtiert ostdeutsches Dorfleben im Sozialismus. Als Sammlung surrealer Anekdoten. Feuchtenbergers Bildergeschichten sprengen die Logik klassischer Comics.

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

Zeitgenossen | Russlands Krieg gegen die Ukraine Nora Krug: „Wir können auch im Kleinen Widerstand leisten“

„Heimat“ heißt die Graphic Novel, in der sich Nora Krug mit der NS-Geschichte ihrer Familie beschäftigt. Sie ging nach dem Studium nach New York, heiratete in eine jüdische Familie und lebt seit 20 Jahren in den USA.

SWR2 Zeitgenossen SWR2

Gespräch „Gerne würdest du allen so viel sagen“: Ein Comic über einschneidende Ereignisse des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart

Mit der Endphase der Weimarer Republik beginnt der Band „Gerne würdest du allen so viel sagen“, denn „wir wollten expliziter in die Geschichte des Dritten Reichs einsteigen“, sagt Kai Pfeiffer, Herausgeber der neuen Comicanthologie bei SWR2.

SWR2 Kultur aktuell SWR2

Zur ganzen Sendung

SWR2 lesenswert Magazin Viele erste Male: Kluge Debütantinnen und alte Abenteurer

Neue Bücher von Toxische Pommes, Pedro Almodóvar, Mirrianne Mahn und Lucía Lijtmaer. Und ein bildstarker Comic von Schuiten und Peeters.

SWR2 lesenswert Magazin SWR2

Stand
AUTOR/IN
Max Bauer