Buchkritik

Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang

Stand
AUTOR/IN
Max Knieriemen

Der französische Schriftsteller Éric Vuillard bewegt sich an der Grenze zwischen Historiografie und Literatur. An einer Grenze, die fließend ist, wie er selbst betont. In seinem neuesten Buch widmet er sich dem Indochina-Krieg. „Ein ehrenhafter Abgang“ ist ein Panorama von Szenen, das von den Kautschukplantagen der Kolonie, bis zum unrühmlichen Ende des amerikanischen Vietnamkriegs reicht.

Als „ehrenhaften Abgang“ versuchten französische Politiker den Militäreinsatz in der Kolonie zu verkaufen. Ein Unterfangen, das kräftig misslungen ist. Fast schon genüsslich breitet Éric Vuillard dieses Scheitern aus. Mit klarer und kritischer Haltung erkundet er eine düstere Episode der französischen Geschichte.

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Indochina 1928: Eine Delegation der französischen Kolonialverwaltung besucht eine Kautschuk-Plantage der Firma Michelin. Die Gewerbeaufseher sollen die Arbeitsbedingungen vor Ort begutachten und was sie vorfinden, ist entsetzlich.

Arbeiter, die dem rigiden tayloristischen Arbeitsregime entfliehen wollen, werden als „Deserteure“ bezeichnet, öffentlich angekettet und in Hinterzimmern schwer misshandelt. Éric Vuillard liefert eindrückliche Szenen und häufig die Quellen, denen er sie entnommen hat, gleich mit.

Der Gewerbeaufseher verfasst gewissenhaft seinen Bericht, die Behörden sprechen ein paar Empfehlungen aus. Ihnen folgt weder Reform noch Verurteilung. In jenem Jahr erzielte die Firma Michelin einen Rekordgewinn von dreiundneunzig Millionen Francs. (aus: Ein ehrenhafter Abgang)

Es fällt schwer, sich der Empörung zu entziehen, die der Autor ganz offensichtlich erzeugen will. Die Erzählung ist akribisch recherchiert. Bei Radio France Inter erklärt Éric Vuillard seinen Ansatz:

Ich glaube, die Grenze zwischen Literatur und Geschichte ist eigentlich fließend und unsicher. Ich glaube nur, einige Leute stoßen sich daran, sich die Macht zu nehmen, historischen Figuren eine Art zu sprechen oder zu denken zu geben.
Dabei arbeiten wir alle mit Worten und können damit ohnehin nur eine flüchtige Wahrheit treffen. Also am Ende sind wir alle Schreiber, egal ob man jetzt – was weiß ich - Victor Hugo oder Georges Duby heißt.

Und irgendwo zwischen dem realistischen Romancier Victor Hugo und Annales-Historiker Duby ist das Werk Vuillards zu verorten. Er ist ein Meister darin, Details zu finden, die historische Zusammenhänge fühl- und begreifbar machen. Zum Beispiel zitiert er aus einem Reiseführer aus den 20er Jahren, um die Beziehung zwischen Franzosen und Vietnamesen zu erklären:

Hol mir eine Rikscha, mach schnell, mach langsam, bieg rechts ab, bieg links ab, fahr zurück, klapp das Verdeck hoch, klapp das Verdeck runter, wart hier kurz auf mich, fahr mich zur Bank, zum Juwelier, ins Café, aufs Kommissariat, zur Konzession.“ So lautete der Grundwortschatz des französischen Touristen in Indochina. (aus: Ein ehrenhafter Abgang)

So wird leicht nachvollziehbar, warum der Widerstand gegen das Kolonialregime so vehement wurde, auch wenn Vuillard die Geschichte ausschließlich aus der Perspektive französischer Politiker, Militärs und Geschäftsleute erzählt. Vuillard imaginiert die Gefühlswelt seiner Protagonisten, ohne sich mit ihnen gemein zu machen. Manchmal führt er sie einfach vor, wie zum Beispiel die Teilnehmer einer Verwaltungsratssitzung der Banque d’Indochine:

[…] was arrangierte Ehen anging, war die Bourgeoisie noch um einiges aufgeschlossener als der Koran, um sich der einfachsten Verwandtschaftsstruktur anzunähern, die man sich denken und die es tatsächlich geben kann, auf dass alles, Autos, Häuser, Aktien, Verpflichtungen, Ehrenämter, Posten und Renten für immer und ewig in der Familie bleiben, und diese auf ihre wesentlichste Form reduzierte elementare Struktur der Verwandtschaft des 8. oder 16. Arrondissements in Paris nennt sich Inzest. (aus: Ein ehrenhafter Abgang)

„Ein ehrenhafter Abgang“ ist ein Panorama von Szenen zu Ursprung und Verlauf des Indochina-Kriegs. Als „ehrenhaften Abgang“ versuchten die Abgeordneten im Palais Bourbon sich selbst und der Öffentlichkeit den Militäreinsatz in der Kolonie zu verkaufen. Bevor man das Land in die Unabhängigkeit entlassen wollte, sollte es vom Kommunismus befreit werden. Ein Unterfangen, das den Franzosen und später den Amerikanern kräftig misslungen ist.

Fast schon genüsslich wird dieses Scheitern ausgebreitet: Manchmal etwas blumig geschrieben, insgesamt aber durchaus prägnant und angenehm zu lesen. Mit klarer und kritischer Haltung erkundet der Autor eine düstere Episode der französischen Geschichte. Éric Vuillard, der sich als Meister der historischen Erzählung einen Namen gemacht hat, überzeugt auch mit seinem neuesten Werk.

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Max Knieriemen