Buchkritik

Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

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AUTOR/IN
Beate Tröger

Édouard Louis betrat mit seinem autofiktionalen Romandebut „Eddy Bellegeule“, in deutscher Übersetzung „Das Ende von Eddy“ die literarische Bühne und wurde damit zu einem Jungstar. Sein ungeschönter Blick auf die armen, ländliche Verhältnisse, denen er entstammt und die Kühle seiner Analyse eines in seinem Heimatland Frankreich noch rigideren Klassismus traf genau den Nerv einer Zeit, in der identitätspolitische Fragen intensiv verhandelt werden. Inzwischen ist der Roman von Louis, dem weitere folgten, in 35 Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert worden.
Mit „Anleitung ein anderer zu werden“ folgt nun ein weiterer Roman des 1992 geborenen Louis, einmal mehr handelt es sich dabei um einen autofiktionalen Text, der Züge des Memoir trägt.

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Wie entkomme ich meiner Herkunft? Kann ich ihr überhaupt entkommen?

In „Anleitung ein anderer zu werden“ geht es, anders als im Debut, nicht mehr um die Frage: Wie kann ich mich an mein Herkunftsmilieu anpassen, obwohl ich mich darin fremd fühle? Es geht nicht mehr um Anpassung, sondern um Abschied.

Zugrunde liegen dem Roman die Fragen: Wie entkomme ich meiner Herkunft, wenn sie als Stigma empfunden wird? Kann ich ihr überhaupt entkommen? Welche Hindernisse gilt es für einen Menschen, der sein Anderssein früh begreift, zu überwinden, um mehr mit sich übereinzustimmen? Und welchen Preis muss zahlen, wer sein Milieu verlässt, aufsteigt? Welche widersprüchlichen Gefühle sind damit verbunden? Welcher Bekenntniswunsch rührt von dort her?

Ich bin sechsundzwanzig Jahre und ein paar Monate alt, die meisten Menschen würden sagen, ich hätte das Leben noch vor mir, noch hätte nichts richtig angefangen, aber ich habe seit Langem das Gefühl, dass ich schon zu viel erlebt habe; vermutlich habe ich deshalb ein so großes Bedürfnis zu schreiben, das Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu fixieren und mich so vielleicht von ihr zu befreien; vielleicht ist die Vergangenheit aber auch so tief in mir verankert, dass ich nicht anders kann, als von ihr zu erzählen, jederzeit, bei jeder Gelegenheit, vielleicht tue ich in dem Glauben, mich von ihr zu befreien, nichts anderes, als ihre Anwesenheit zu stärken und ihre Macht über mich zu vergrößern, vielleicht sitze ich in der Falle – ich weiß es nicht.
Aus Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Eddy hält die Armut, die Einfalt, die laufenden Fernseher in seiner Familie schon als Kind nicht mehr aus

Es nicht wissen können, aber es wissen wollen, vielleicht könnte man so die verborgene Motivation des Autors umreißen. Er analysiert, warum er zu denjenigen gehört, die ihr Milieu hinter sich lassen wollen, ja, es müssen. Eddy, wie der Vorname des Autors Édouard Louis ursprünglich lautete, hält die Armut, die Einfalt, die laufenden Fernseher in seiner Familie schon als Kind einfach nicht mehr aus.

Er findet dank guter Noten Aufnahme im Gymnasium, er findet dank der Schauspielerei, vor allem aber in der Mitschülerin Elena eine hoch gebildete Freundin, bei deren Familie er zeitweise unterschlüpfen darf. Dort adaptiert er gierig alle Möglichkeiten, den Bildungsaufstieg anzugehen. Er beginnt, wie verrückt zu lesen.

Die langen Stunden, in denen ich mein Leben erlernte, als wäre es eine Theaterrolle

Elena wird ihm eine treue und fast symbiotische Freundin, von der er alles übernimmt, was ihm zur Flucht aus seiner Familie verhilft. Er weiß, er muss seinen Habitus ändern, um das Milieu zu wechseln.

Also tat ich für das Lachen dasselbe wie für den Dialekt: ich übte. Ich beschloss, ein neues Lachen zu erlernen, allein durch Willenskraft. Jeden Tag stellte ich mich vor den Spiegel und übte, anders zu lachen, leiser, mit geschlossenem Mund, weniger expressiv. Ich übte ein Lachen, das besser zu meinem neuen Leben passte, zu meiner neuen Welt, zu Elena und zur Dringlichkeit meiner Metamorphose. […] Im Laufe der Zeit wurde dieses aufgesetzte Lachen zu meinem eigentlichen Lachen – und wenn ich es heute höre, zum Beispiel in einem Video, kommt es mir künstlich vor. Ich höre aus meinem Lachen seine Entstehung heraus, die vielen Stunden allein vor dem Spiegel, die langen Stunden, in denen ich mein Leben erlernte, als wäre es eine Theaterrolle. Mein Leben war eine einzige Konzentrationsübung. Ich sprach konzentriert, lachte konzentriert, nieste konzentriert, aß konzentriert. Alles war eine Frage der Übung.
Aus Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Die Dringlichkeit dieser Metamorphose verfolgt man in Édouard Louis’ Roman mit großer Aufmerksamkeit und Bereitwilligkeit. Und auch die Grausamkeit, derer es bedarf, etwas zurückzurückzulassen, Menschen zurückzulassen.

Louis beschreibt seine Erzähler- und Hauptfigur präzise und mit hohem Stilbewusstsein. Er ist extrem reflexionsfähig und reagiert auch in der Wahl der sprachlichen Mittel auf die tiefgreifenden Veränderungen.

Der Wunsch nach Rettung wird zum alles Beherrschenden

Immer wieder wechseln in den vier Teilen des Romans die Perspektive und das Genre: Vom Memoir zur Selbstbefragung des Erzählers in den „Imaginären Gesprächen vor dem Spiegel“ bis hin zu einer Art Brief an den Vater, mit dem Louis sich auch einreiht in die Tradition Kafkas, werden immer neue Tonarten angestimmt, Veränderungen in der Sprache gespiegelt.

Das erhöht die Spannung und akzentuiert die widersprüchlichen Empfindungen des Erzählers, gibt seinem überaus dringlichen Wunsch zur Veränderung Nachdruck, der im französischen Originaltitel noch deutlicher als in der deutschen Übersetzung zum Tragen kommt: Changer: méthode. Der Wunsch nach Rettung wird zum alles Beherrschenden.

Meinen Namen ändern (auf dem Amt?), mein Gesicht verändern, meine Haut verändern (Tattoo?), lesen (jemand anders werden, schreiben), meinen Körper verändern, meine Gewohnheiten ändern, mein Leben verändern (jemand werden).
Aus Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Der Versuch sich zu retten kann auch bedeuten, die zu verraten, die einem Gutes wollten

Édouard Louis erzählt bei aller Nüchternheit ergreifend vom Versuch, sich so umzubauen, dass man gerettet ist vor der Armut, der Scham, der Ausgrenzung. Konkret kann dieser Versuch auch bedeuten, die zu verraten, die einem Gutes wollten.

Elena, die kluge Jugendfreundin, die nicht von einem Leben als Starintellektuelle träumt, sondern lediglich mit dem Erzähler den Alltag teilen will, bleibt auf der Strecke, als Édouard seinen Mentor kennenlernt, den Soziologen und Autor Didier Eribon. Er will nicht länger sein wie Elena, sondern höher hinaus. Zwar liebt er Elena, aber er will mit Männern leben. Elena bleibt zurück.

Indem Louis sie wie den Vater zur direkten Adressatin seines Romans macht, ihr seine Schuldgefühle bekennt, zeigt sich, dass er die Last, die er hinter sich zu lassen geglaubt hat, weiter mit sich herumschleppt:

Ich glaube, ich schreibe, weil ich manchmal alles bereue, wie ich manchmal bereue, mich von der Vergangenheit abgekehrt zu haben, weil ich mir manchmal nicht sicher bin, ob meine Bemühungen zu irgendetwas nutze waren. Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist, dass ich um ein Glück gekämpft habe, das ich nie gefunden habe.
Aus Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Mit „Anleitung ein anderer zu werden“ sensibilisiert Louis seine Leserschaft für Fragen nach Möglichkeiten, Grenzen und Konsequenzen des sozialen Aufstiegs durch Bildung, für die Fröste der Freiheit, die aus der Ablehnung von Normen entstehen.

Édouard Louis' kühle Reflexionsfähigkeit ist der von Annie Ernaux und Didier Eribon verwandt

Man folgt, dank der stilistischen Differenzierungen des Autors und seiner kühlen Reflexionsfähigkeit, die der von Annie Ernaux und Didier Eribon verwandt ist, gespannt den schmerzensreichen, von Rückschlägen begleiteten Bildungsaufstieg des Dorfjungen Eddy hin zum Studenten an der Pariser Eliteuniversität École Normale Superieure.

Louis, der schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr vom intellektuellen Wunderkind zum erfolgreichen Starautor geworden ist, zeigt, dass die autosoziographischen Erkundungsmöglichkeiten seiner eigenen Geschichte noch nicht als abgeschlossen gelten müssen.

In dem Titel „Anleitung ein anderer zu werden“, ist wie im französischen Original „Changer: Methode“ die Möglichkeit zur andauernden, lebenslangen Veränderung schon mitgedacht.

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Beate Tröger