Buchkritik

Clemens J. Setz – Monde vor der Landung

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AUTOR/IN
Alexander Wasner

In seinem neuen Buch erzählt der österreichische Schriftsteller Clemens Setz von Peter Bender, einem rheinhessischen Utopisten, Religionsgründer und Nerd, der vor 100 Jahren glaubte, die Menschheit würde nicht auf dieser Kugel, sondern auf der Innenseite der Erdschale leben. Mit „Monde vor der Landung“ bekommt der exzentrische Bender ein verrücktes literarisches Denkmal.

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Geboren 1893 in Bechtheim, Kreis Alzey-Worms. Laut Dorf-unterlagen am 29. Mai, allerdings später von ihm selbst auf den 30. geändert. Hier wächst das Kind auf, unter der Schirmherrschaft der Weinhänge, mit Sonne zwischen den wellig gekämmten Hügeln, mit Trauben im Schuh, im Bett, überall, und dem rötlichen Geruch der alten Ziegelei. Ein Kirchturm saugt einen Vogelschwarm aus dem Himmel.

Es hört sich an wie der poetische Remix eines trutschigen Groschenromans.

Peter Bender gab es wirklich. Es war ein schräger Vogel. Im ersten Weltkrieg war er Pilot, wurde dann Mitglied des kommunistischen Arbeiter- und Soldatenrates der Stadt Worms, den es nach dem Ende der Monarchie kurz gab. Er war überzeugter Utopist, das heißt, er glaubte fest, die Menschheit könnte irgendwann im Paradies leben. Das ging recht weit, er forderte ein festes Einkommen für Hausfrauen und lebte polyamouröse Beziehungen, naja, er hatte ziemlich wilde Affären.

Mit der Ausarbeitung seiner Theorien war kein Geld zu verdienen, stattdessen brachten sie ihn mehrfach in Nervenheilanstalten und Gefängnisse. Er war esoterisch umtriebig, zunächst als Astrologe. Das Geld verdiente in Wirklichkeit seine Frau Charlotte als Maklerin und Sprachlehrerin und in anderen Berufen. Sie war allerdings Jüdin und im Dritten Reich brach die bürgerliche Existenz zusammen.

Peter Bender versuchte sich in Anbiederung an die neuen Machthaber und im Schreiben von Bettelbriefen und wollte damit noch eine Überfahrt in die USA herausschinden, aber daraus wurde nichts. Er starb im KZ Mauthausen – und kurz darauf wurde auch seine Frau verhaftet, die sich versteckt hatte. Sie wurde in Auschwitz ermordet.

Aus dieser Biografie hat Clemens Setz einen Roman gemacht. Aber was bespricht man, wenn man dieses Buch dann bespricht? Wirklich den Roman? Oder doch die Biografie des Helden?

Clemens Setz stellt das Weltbild von Peter Bender in den Mittelpunkt. Das ist ziemlich krude. Peter Bender glaubt, dass die Erde eine Kugel ist, in der wir leben. Ja, Sie haben richtig gehört: IN der wir leben. Die Erde hat danach 12.000 Kilometer Durchmesser, wie in echt, aber sie ist hohl wie ein Ei.

In der Mitte schweben ein Feuerball und ein paar Leuchtkörper als Sterne. Was wir als Himmel bezeichnen über uns – das ist das Wasser des Pazifiks. Die Hohlwelt oder Innenwelt-Theorie hat sich eine Koresh Sekte vor mehr als 100 Jahren in Amerika ausgedacht. Sie ist wenig belastbar und nicht sehr verbreitet. Peter Bender störte sich nicht daran, dass er als Pilot einen recht guten Blick auf die Erdkrümmung hatte.

Die Entdeckung der Theorie erzählt Clemens Setz als einen Moment, in dem der Pilot Peter Bender im Ersten Weltkrieg einen schwer verwundeten Kameraden unterhalten muss, damit der nicht einschläft, denn der Schlaf würde seinen Tod bedeuten.

Der Anblick des kranken Kameraden rührte ihn, aber sein Kopf blieb vollkommen leer. „Also“, begann er, „pfffft, ja, also ... Also, das von den Monden hab ich dir ja schon erzählt, nicht? ….“ Sonnleithner brummte zustimmend.

„Und, ja ...“, sagte Bender.

Was konnte man aus diesem Bild noch herausholen, sodass Sonnleithner davon irgendwie beruhigt wurde? … Die Lösung kam nach einigen Augenblicken und verblüffte Bender so sehr, dass er eine Weile selbst mit offenem Mund dasaß.

„Und das Lustige ist“, sagte er, „wir selbst sind natürlich auch in einem Mond, ja? Das heißt, das ganze Universum ist einer ... Wir sind innen, nicht außen. Verstehst du?“

Sonnleithner sagte nichts."

Die Darstellung von Peter Bender ist teilweise dokumentarisch, sogar faksimilierte Briefe sind abgedruckt. Sprachbilder, die den Lyriker verraten, wie die aus dem Himmel gesaugten Vogelschwärme, sind seltene Inseln im Buch. Es dominieren realistisch personal erzählte Szenen, fast chronikhaft erzählt, und immer wieder die Annäherungen an die krude Gedankenwelt.

Man spürt: Setz war fasziniert von seinem Helden. Er hat viel recherchiert, das Thema war ihm wichtig, sein Herz schlägt für die Nerds, wie er beim Büchner-Preis ausgeführt hat. Und da sind die 20er Jahre eine Fundgrube.

Es waren viele schräge Vögel unterwegs, vor ein paar Jahren gab es gleich mehrere Bücher über August Engelhardt, der glaubte, man müsste zur endgültigen Rettung der Menschheit nur genug Kokosnussplantagen anlegen. Es gibt für diese Sorte pseudoreligiös erweckter Männer den Begriff der Inflationsheiligen, kann man googlen, ist wirklich interessant. Die Inflation ist dabei wichtig – denn kurz nach dem Ende der Kaiserzeit ging mit dem Glauben an die Wirklichkeit des Geldes viel verloren.

Das Geld lag unbelebt da, aber zugleich würmelte und vibrierte in ihm die Welt ringsum, ja, der gesamte Wirtschaftsraum krümmte sich in ihm sozusagen unter Schmerzen; es war seine Empfangsantenne. Wenn man dicht danebenstand, konnte man die Geldbündel sogar rauschen hören. Der Wert floss aus ihnen.

Dieser Wert des Geldes wird durch den Glauben an alles Mögliche ersetzt. Peter Bender ist vergleichsweise harmlos. Er baut sich mit der Hohlwelttheorie eine Welt im Glas, und er weiß nicht, ob sie für Geborgenheit oder Gefangenschaft steht.

Eines Abends stülpt Bender ein Trinkglas über eine Spinne, die er neben seiner Schlafstätte auf dem Boden entdeckt hat. Er lässt das Glas ganze drei Tage so stehen und stellt am Ende fest, dass die Spinne immer noch lebt und unermüdlich daran arbeitet, das Rätsel dieses über sie verhängten Raumzaubers zu lösen.

„Monde vor der Landung“ erzählt, wie die Fantasie mit einer grotesken Gegenwart zurechtzukommen versucht. Und natürlich auch, wie die Gegenwart mit einer grotesken Phantasie umgeht. Man kann Bender deshalb mit Don Quichottes Glauben an die Existenz der Ritterwelt vergleichen.

Was Clemens Setz aus diesem Kauz macht, ist allerdings sehr viel mehr als nur ein Schelmenroman oder ein verkorkster Bildungsroman oder so etwas – es ist ein als Fantasy-Kulisse verkleideter Alptraum, eine klaustrophobische Geistestragödie.

Sagen wir es mal so: Es gibt ja den berühmten Satz, dass Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden sei. Die dafür notwendige Liberalität beanspruchen Clemens Setz und genauso sein Held. Der Büchner-Preisträger Clemens Setz beschreibt in „Monde vor der Landung“ eine Überlebensstrategie im Wahnsinn der Zeit.

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Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-518-42965-5

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