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Mircea Cartarescu: Solenoid

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Was für ein Buch! Ein Roman? So steht es auf dem Umschlag. Eine große Phantasmagorie, angesiedelt im wahnwitzig ausgemalten Bukarest der finsteren Ceausescu-Jahre. Elemente aus Cartarescus Biografie sind eingearbeitet, trotzdem schwebt das von Ernest Wichner kongenial ins Deutsche übertragene Buch weit über jeder Realität.

Der Erzähler ist ein Mann, 24 Jahre alt, 48 Kilogramm leicht, der nichts anderes sein will als ein Schriftsteller, aufgewachsen als Arbeiterkind, kränklich, schwach, von Ärzten gequält, in Kliniken misshandelt.

Vor Jahren hat er sein erstes Gedicht vorgelesen und wurde verlacht; jetzt führt er eine Randexistenz als Lehrer in einem heruntergekommenen Bezirk.

Das ist die eine Seite: Die im wahrsten Sinne des Wortes fantastisch beschriebene Stadt Bukarest. Ebenso entscheidend aber ist das, was sich im Kopf des Erzählers abspielt, in dem permanent Autorenfiguren erfunden werden, die neue Geschichten erzählen.

Zwischen Tatsachen, Träumen und Erinnerungsschüben, zwischen Außenwelt und Innenwelt wird nicht unterschieden; sie fließen zusammen zu einem so exzessiven Buch, wie es lange nicht mehr zu lesen war. Ein James Joyce, der Pilze mit psychedelischer Wirkung genommen hat.

Bukarest wird zum Ort der doppelten und dreifachen Böden, ein Haus wird zum Schiff, und unter einem Museum befindet sich der zentrale Knotenpunkt der titelgebenden Solenoiden – elektromagnetische Pulsgeber, die unter der Stadt ein Netz bilden und sogar die Schwerkraft aufheben können.

Exakt 900 Seiten, darüber hinaus auch noch ein wunderschön gestalteter Band. Danach hebt man den Kopf und schüttelt sich und fragt sich, ob die Welt nicht eine andere geworden ist.

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AUTOR/IN
SWR