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Norbert Gstrein: Als ich jung war

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Der Österreicher Norbert Gstrein hat die Verweigerung erzählerischer Eindeutigkeit in seinen Romanen zum ästhetischen Programm erhoben und von Buch zu Buch verfeinert. „Wem gehört eine Geschichte?“, so lautete der Titel eines Essay-Bandes aus dem Jahr 2004, in dem Gstrein die Annahme der Notwendigkeit von faktischer Konsistenz in fiktionalen Texten überprüft.

Die Fakten also in „Als ich jung war“ ließen sich folgendermaßen zusammenfassen: Franz ist der Sohn eines Hoteliers, der sich auf die Ausrichtung von Hochzeiten spezialisiert hat. Nach dem ungeklärten Todesfall bricht Franz, zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt, in die USA auf, arbeitet als Skilehrer in den Rocky Mountains und kehrt 13 Jahre später zurück nach Tirol, wo der Bruder mittlerweile den Gastronomiebetrieb übernommen hat. So könnte es gewesen sein, aber eben auch ganz anders. Denn Franz selbst, der gescheitert und mittellos in die Heimat zurückkehrt, bleibt als Erzählinstanz ebenso undurchschaubar wie unzuverlässig. Was ist wirklich geschehen an jenem Tag, an dem eine Braut bei einer Hochzeitsfeier zu Tode kam? Was ist mit Sara, die als Sehnsuchtsprojektion durch den Roman geistert? Hat Franz sie gegen ihren Willen geküsst? Oder gar Schlimmeres? Wusste er wirklich nicht, dass sie zu diesem Zeitpunkt erst 13 Jahre alt war?

Im dunklen Zentrum des Romans wiederum steht Franz‘ eigene Missbrauchsgeschichte während der Internatszeit. Es gibt kaum einen Autor, der so treffsicher in jene Zwischenräume vorzustoßen vermag, in denen Menschen sich ihrer selbst ungewiss werden, wie Norbert Gstrein.

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SWR