Buchkritik

Antje Rávik Strubel - Blaue Frau

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AUTOR/IN
Julia Schröder

Für ihren Roman "Blaue Frau" erhält Antje Rávik Strubel den Deutschen Buchpreis 2021.

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Hand aufs Herz mit Antje Rávik Strubel

Was ist Adina Schejbal zugestoßen?

Irgendetwas muss dieser Frau zugestoßen sein. Etwas, das gerichtet werden muss. Sie will Gerechtigkeit, aber sie weiß nicht, wie sie es anstellen soll:

„(…) sie kann nicht einfach zum Gerichtsgebäude gehen und anklopfen. Sie ist in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht. Sie weiß nicht, an wen man sich wendet, nur, dass sie einen Anwalt braucht, und Anwälte kosten Geld. Sie weiß aber, dass sie die Aussage machen muss, in einem holzgetäfelten Saal und vor Geschworenen, wie sie es im Film gesehen hat (…). Und wenn die Verteidiger sagen, Einspruch Euer Ehren, weil ihre Aussage ungeheuerlich ist, wird die Richterin den Kopf heben. Sie wird sich Zeit nehmen, jeden Verteidiger zu mustern, und das wird lange dauern, weil für Männer wie diese ein einziger Verteidiger nicht reicht. Einspruch abgelehnt, wird die Richterin sagen. Bitte, Adina Schejbal, sprechen sie weiter.“
(Antje Rávik Strubel: Blaue Frau)

Die ersten Seiten von Antje Rávik Strubels neuem Roman skizzieren fast klinisch das Porträt einer Frau Anfang zwanzig im Griff ihrer posttraumatischen Belastungsstörung. Alles – die Geräusche, die Gegenstände in der kärglichen finnischen Plattenbauwohnung, ihr eigener Körper, ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart – hat seinen Zusammenhalt verloren. Nicht einmal ihr Name scheint ihr noch zu gehören.

Adina ruft ihre Mutter sie. Sala hat ihr Geliebter sie genannt. Nina hieß sie für Männer, die ihr das zugefügt haben, was die junge Frau in Helsinki vor Gericht bringen will. „Kleiner Mohikaner“ ist der Schutzname, den sie sich selbst gibt.

Wie kommt Adina aus dem Skitouristendorf im tschechischen Riesengebirge in eine finnische Hotelbar?

Wie es dazu kam, wie Adina aus dem Skitouristendorf im tschechischen Riesengebirge in die Arme einer Berliner Fotografin geriet, in ein entstehendes Kulturzentrum in der Uckermark und - nach ihrer Flucht durch den halben Kontinent - hinter den Tresen einer finnischen Hotelbar, verbindet sich mit vielen Rätseln, Unschärfen, falschen Erinnerungen, Schlaglichtern auf den durchlebten Schrecken.

Sie füllen die verbleibenden 400 Seiten des Romans „Blaue Frau“, in dem Antje Rávik Strubel das schmerzhafte Geschick dieser eigenwillig-verletzlichen Figur verknüpft mit brennenden Fragen der Gegenwart.  

Eins dieser Themen verkörpert sich in Adinas zeitweiligem Geliebten Leonides, einem EU-Abgeordneten aus Estland mit Gastprofessur in Helsinki. Was diesen Politikwissenschaftler umtreibt, ist der weiterschwelende Ost-West-Konflikt innerhalb Europas, den die Länder des alten Westens so erfolgreich ignorieren.

Leonides begreift, dass Adina sexuelle Gewalt erlitten hat

Irgendwann muss er begreifen, dass sich dieser erinnerungspolitische Konflikt nicht nur in weiterwirkenden stalinistischen Strukturen, nationalistischen Aufwallungen und den Lebenslügen der Europapolitik äußert, sondern auch im Allerpersönlichsten:  Nämlich in der vernichtenden sexuellen Gewalt, die Adina, seine Sala, erlitten hat und von der er nichts ahnte. Allerdings drückt sich der Karriere-Intellektuelle im Cordanzug auch in diesem dramatischen Augenblick der Erkenntnis allzu plakativ aus:

„Jahrhundertelang hat der westliche Mensch das Mörderische in ihm outgesourct und davon profitiert. Fern von zu Hause brechen die Dunkelstellen auf, zu Hause aber ist er voller guter Taten. Da muss ich mich fragen: War ich blind? (…) Haben mich die süßen Lügen der Selbsttäuschung davon abgehalten zu erkennen, wie sehr die Geopolitik des Westens auf einer Versklavung der Körper beruht? Nichtwestlicher Körper?“
(Antje Rávik Strubel: Blaue Frau)

Das bestimmende Rätsel des Buchs ist die titelgebende „Blaue Frau“. Sie taucht zunächst als eine Art Geist der Erzählung auf, als Gestalt, die der Erzählerin ihre eigenen Zweifel und Beweggründe zu reflektieren scheint, und verschwimmt gegen Ende zunehmend mit der Hauptfigur Adina.

Die Erzählerin gibt immer mehr über die Bedingungen preis, unter denen der Roman entstand

Gleichzeitig gibt die Erzählerin gut metafiktional immer mehr über die Bedingungen preis, unter denen der Roman entstand. Acht Jahre lang hat Antje Rávik Strubel nach eigenem Bekunden daran gearbeitet, auch während ihrer Aufenthalte als Writer in Residence in Helsinki.

„Ich bin wegen der Geschichten hier, die ich bisher übersehen habe. (…) Im europäischen Kontext ist Finnland die Schnittstelle zwischen Ost und West, auch wenn ich das zwischendurch verworfen habe. (…) Ost- und Westeuropa sind nicht nur geographisch, sondern auch vom Tempus her verschieden. Während der Westen die Ausbildung einer europäischen Identität mit der Bewältigung der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs für abgeschlossen hielt, tauten in den Ostblockländern die jahrzehntelang im organisierten Vergessen eingefrorenen Erinnerungen an den Krieg erst nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes auf.“
(Antje Rávik Strubel: Blaue Frau)

Der Kulturfunktionär aus dem Schwäbischen ist ein brutaler Vergewaltiger

Selbstredend kann der moderne Roman, der große Allesfresser, auch solche essayistischen Brocken verdauen. Noch störender ist allerdings die Verteilung der Partien von klugen, schönen Finninnen, durchgeknallten Berlinerinnen, zwangsprostituierten Polinnen, weltfremden Intellektuellen und gewissenlosen Schurken – was Strubel hier auftreten lässt, streift das Klischee nicht nur.

Einer dieser Schurken ist ein uckermärkischer Subventionserschleicher mit dem sprechenden Vornamen Ravzan, was sich mit v schreibt, aber nach Doppel-f klingt. Ein anderer, der Schlimmste überhaupt, ist ein Kulturfunktionär aus dem Schwäbischen, der seinen Russland-Fetisch beim Vergewaltigen junger Osteuropäerinnen straflos ausagiert.

Wie zur Entschädigung serviert Antje Rávik Strubel immer wieder große Portionen ihrer berückenden Schilderungen ungefährer Landschaften, innerer wie äußerer.

„Abendsonne hat die Bootsschuppen, das Wasser und die algenüberspülten Steine erfasst. Blätter liegen im Sand, gelb durchsprenkeltes Grün der Birken. Die Stämme sind nass, die Flechten schattig von Feuchtigkeit. Die blaue Frau kommt vom Ufer herauf. Als die Röte nachlässt, bleibt ein Schimmer auf ihrem Gesicht zurück, verschiebt es, richtet es neu ein. Die Haut wie die Faltungen des Sandes. Sie erinnert mich an jemanden.“
(Antje Rávik Strubel: Blaue Frau)

Hinter all den Diskussionen und literarischen Bezügen droht die Hauptfigur zu verschwinden

Die Frage ist dennoch, ob Strubel der Geschichte ihrer Hauptfigur nicht zu viel aufbürdet. Das Mädchen mit den sehnigen Gliedmaßen und der kindlichen Seele, der „kleine Mohikaner“ und letzte Teenager seines Dorfs, entdeckt sich und seine fluide Sexualität ja gerade erst.

Hinter all den politischen und philosophischen Diskussionen, den literarischen Bezügen und Erwägungen droht Adina Schejbal, die junge Frau aus dem tschechischen Riesengebirge, zu verschwinden, anstatt sichtbar zu werden.

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Julia Schröder