Stefan Weidner - 1001 Buch. Die Literaturen des Orients (Foto: Edition Converso)

Buch der Woche

Stefan Weidner - 1001 Buch. Die Literaturen des Orients

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AUTOR/IN
Angela Gutzeit

Der Orient – er umfasst bei Stefan Weidner sage und schreibe zwanzig Länder. Vom Atlantik bis zum Persischen Golf erstreckt sich die alte und doch auch so moderne Literaturregion, die der Islamwissenschaftler Weidner in der Anthologie vorstellt.

Ein üppiges Kompendium voller Witz, Schwank und Politik. So vielfältig wie der Orient selbst!

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Zugleich Übersetzer und Islamwissenschaftler

Stefan Weidner, 1967 in Köln geboren, ist einer der profiliertesten Islamwissenschaftler unseres Landes.

Als Übersetzer widmete er sich der Lyrik des syrischen Dichters Adonis und des palästinensischen Schriftstellers Mahmud Darwisch wie er sich auch als Herausgeber für die moderne arabische Lyrik engagierte.

In seinen Büchern setzte sich Weidner u.a. mit den Islamdebatten auseinander, die auch in unseren europäischen Gesellschaften nach dem 11. September 2001 und seit den arabischen Revolutionen immer präsenter wurden.

Der Begriff des "Orients" soll rehabilitiert werden

 Stefan Weidner, Autor, Islamwissenschaftler und Übersetzer (Foto: Pressestelle, Stefan Weidner)
Stefan Weidner, Autor, Islamwissenschaftler und Übersetzer

In seinem neuen, bewusst an eine breite Leserschaft gerichteten Buch „1001 Buch. Die Literaturen des Orients“ öffnet uns Weidner in Essays und Portraits den Blick für die Komplexität des islamisch geprägten Literatur-, Sprach- und Kulturraums – oder, wie er bewusst schreibt – des Orients.

Stefan Weidner strebt nichts weniger an als eine Rehabilitierung des Begriffs "Orient" und definiert ihn in seinen Essays über seine Literaturen als einen  "polykulturellen Imaginationsraum mit beträchtlichem utopischen Potential".

Ein breites Spektrum orientalischer Literatur wird präsentiert

Aber welchen Imaginationsraum hat der Autor im Blick?

Es handelt sich um jene Literaturen, die sich im Einflussbereich der dritten großen monotheistischen Weltreligion entwickelt haben, der islamischen. Diese Literaturen sind in den drei verbreiteten, vom Islam geprägten Sprachen Arabisch, Persisch und Türkisch verfasst und werden seit dem 20. Jahrhundert um Werke bereichert, die von Autorinnen und Autoren mit biografischem Bezug zum Orient in westlichen Sprachen geschrieben werden.

Weidner unternimmt in seinem Buch in lockerer Erzählweise einen Streifzug durch die Literaturen des islamisch geprägten Orients.

Weidner setzt bewusst vertiefende Schwerpunkte

Dabei geht er chronologisch vor, nach Epochen, vom Mittelalter mit seiner klassischen arabischen Prosa, über die Moderne mit ihrer Zertrümmerung der formstrengen osmanischen Diwan-Dichtung  bis zu den Schriftstellern der arabischen Revolutionen.

Aber immer wieder hält Weidner inne und baut in seinen Streifzug kleine thematisch vertiefende Inseln ein. So zeigt er zum Beispiel die Schwächen der abendländischen Koranübersetzungen auf, die mit ihrer Kommentarflut Bedeutungsebenen eher zuschütten als erhellen würden.

Die hypertextuelle Struktur des Korantextes, hat man sie erst einmal begriffen, macht es (..) unmöglich, einzelne Aussagen zu isolieren. (…) Selbst die beste Übersetzung bleibt zwangsläufig Fragment.

Texte, die das arabischen Alphabet verwenden, sind „orientalische Literatur“

Auch zeigt Weidner, wie frisch und neu die orientalische Geschichtensammlung wirkt, wenn man dem klaren, auf Ausschmückungen verzichtenden Duktus der Übersetzerin Claudia Ott folgt.

Zu den Literaturen des Orients kann man zunächst diejenigen zählen, so Weidner, die sich des arabischen Alphabets bedienen. Zeitlich reicht das zurück bis zur Entstehung des Korans.

Geografisch und kulturell bis nach Afrika, in den Nahen und Mittleren Osten, den indischen Subkontinent und den Kaukasus sowie bis nach Andalusien mit der hier entstandenen hebräischen Lyrik und der Literatur der irakischen Juden.

Grenzverschiebungen wirken sich positiv auf die Literatur aus

Ein riesiger Sprachraum, der einerseits durch das in weiten Teilen gesprochene Hocharabisch Kontinuität und kulturelles Gedächtnis bewahren konnte.

Andererseits durch die Folgen des Kolonialismus, durch Emigration, politische Verwerfungen und Modernisierungsschübe "zunehmend ausfranst", wie es Weidner bezeichnet.

Eine postkoloniale Verwischung der Grenzen sei entstanden, die der Autor positiv bewertet und die, wie er schreibt, immens politisch sei.

Auch europäische Sprachen finden Erwähnung

Postkolonial bedeutet für die hier in Rede stehenden Literaturen, dass in ihnen nicht nur die Grenzen von Nationalliteraturen fließend geworden sind, sondern auch die Grenzen der Sprachen , die damit ebenfalls als nationale oder nationalistische Markierungen außer Kraft gesetzt werden, was naturgemäß  ein eminent politischer Akt ist.

Zu den interessantesten Kapiteln in Weidners abwechslungsreicher Wanderung durch die Jahrhunderte der Literaturen des Orients, gehört das Kapitel über die orientalische Literatur in europäischen Sprachen.

Literarische Gattungsgrenzen werden aufgeweicht und aufgelöst

In Kurzportraits und erklärenden Zwischentexten werden Autoren und Autorinnen des 20. Jahrhunderts vorgestellt, die in Französisch, Deutsch oder Englisch schreiben.

Sie denken dabei nach über Herkunft und Sprachaneignung und lösen literarische Gattungsgrenzen auf.

Wie zum Beispiel die 2015 verstorbene Algerierin Assia Djebar, die in ihren Romanen zwischen islamischer und europäischer Kultur nach der weiblichen Identität sucht.

Eine prall gefüllte Schatzkiste und klare Orientierung

Stefan Weidners Buch ist wie eine prall gefüllte Schatzkiste, die uns die Literaturen des Orients in ihrer Vielstimmigkeit, aber eben auch in ihrer ausgreifenden Multikulturalität nahebringt und zum Lesen anregt.

Dabei berücksichtigt er insbesondere Bücher, die in deutscher Übersetzung vorliegen und enthält sich auch nicht ästhetischer Urteile. 

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Angela Gutzeit