Pandemie

Corona-Inzidenz: Wissenschaft schlägt andere Richtwerte vor

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David Beck
Bild von David Beck, Reporter und Redakteur SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Impuls. (Foto: SWR, Ilyas Buss)
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Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Tagtäglich werden wir über über alle Kanäle über die neuesten Corona-Inzidenzzahlen informiert. Das Problem ist, dass es für die Inzidenzgrenzen keine wissenschaftliche Basis gibt.

Warum sind Inzidenzzahlen aus wissenschaftlicher Sicht nicht aussagekräftig?

Argumentiert wurde ja immer, dass die Gesundheitsämter ab einer bestimmten Inzidenz nicht mehr mit der Kontaktverfolgung hinterherkommen. Aber ob oder ab wann das so ist, hat noch nie jemand wirklich überprüft. Außerdem gibt es da wahrscheinlich auch große Unterschiede: Ein kleines Kreisgesundheitsamt mit fünf Mitarbeitern ist sicherlich schneller überlastet als das große in Hamburg.

Die Inzidenz lässt sich außerdem oft nur schlecht vergleichen. Die Kreise haben einige Freiheit darin, was sie alles reinrechnen und was rauslassen. Und dann gibt es ja auch die – zum Teil berechtigte – Kritik, dass mehr Tests auch zu einer höheren Inzidenz führen.

Die Grenze ist also ziemlich willkürlich und sie hat vor allem keine Aussagekraft über die aktuelle Belastung des Gesundheitssystems. Und letztendlich dienen ja alle Maßnahmen eigentlich dem Zweck, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird.

Mehr Tests gleich höhere Inzidenz, weil mehr gefunden wird. Stimmt das?

Ja und Nein. Einen gewissen Einfluss hat die Zahl der Tests schon, aber da wir ja nicht wahllos, sondern eher gezielt testen, würde zum Beispiel eine Verdopplung der Tests nicht automatisch eine Verdopplung der Inzidenz bedeuten. Der Einfluss ist nicht besonders hoch, aber wie hoch er genau ist, wissen wir gar nicht, weil wir ja nicht wissen, wie viele Infizierte nicht getestet werden – wir kennen also die Dunkelziffer per Definition nicht.

Das zeigt aber auch ein weiteres Problem der Inzidenz auf: Wir wissen gar nicht genau, wie falsch sie ist. Das ist jetzt zwar auch nicht ganz sachlich ausgedrückt und die Inzidenz hat auch Vorteile, aber perfekt als Kennziffer für die epidemiologische Lage im Land ist sie nicht.

Corona - Warteschlange vor einem Geschäft  (Foto: IMAGO,  imago images/Ralph Peters)
Aus Forschungskreisen kommt der Vorschlag, bei der Beurteilung und Eindämmung der Pandemie auch andere Parameter als die Inzidenz zu berücksichtigen.

Ein Vorschlag ist, eher auf die Zahl der Neuaufnahmen auf Intensivstationen zu gucken. Wie würde das aussehen?

Da würde man schauen, wie viele Menschen pro 100.000 Einwohnern pro Woche – also ähnlich wie bei der Sieben-Tages-Inzidenz – mit einer Coronainfektion auf der Intensivstation landen.

Was diese Zahl eben gut aussagt, ist: Wann sind wir an dem Punkt, an dem wir auf längere Sicht die Intensivstationen überlasten? Das ist ja nach wie vor das größte Problem an der Pandemie: Wir dürfen nicht in eine Situation kommen, in der wir die Kranken nicht mehr behandeln können. Wenn sich aber viele Menschen infizieren – die Inzidenz also hoch ist – aber niemand schwer krank wird und auf der Intensivstation landet, dann sind Maßnahmen wie ein Lockdown nicht mehr gerechtfertigt. Sonst müssten wir das ja für jede Erkältungswelle machen.

Helmut Küchenhoff von der Uni München schlägt als Hausnummer einen Grenzwert von 5 Neuaufnahmen pro 100.000 Einwohnern pro Woche vor. Er nennt das ganz bewusst erstmal “Hausnummer” und nicht Grenze, weil er die Zahl als Diskussionsgrundlage sieht – aber aus seiner Sicht kann man auf einer fundierten wissenschaftlichen Grundlage darüber diskutieren, anders als bei der Inzidenz.

Ein Nachteil der Methode wäre, dass das eigentliche Infektionsgeschehen erst relativ spät erkannt werden kann, da Menschen ja erst ein bis zwei Wochen nach der Infektion auf der Intensivstation landen. Die Inzidenz bildet die epidemiologische Lage deutlich aktueller ab.

Die Lage auf den Intensivstationen bleibt angespannt. Es könnte durchaus sinnvoll sein, das als eine wichtige Kennzahl mit zu berücksichtigen. (Foto: IMAGO, imago images/Max Stein)
Die Lage auf den Intensivstationen bleibt angespannt. Es könnte durchaus sinnvoll sein, das als eine wichtige Kennzahl mit zu berücksichtigen.

Welche anderen Kennzahlen/Gegenvorschläge gibt es noch, die mehr bringen als auf die Inzidenzzahl zu schauen?

Die Positivrate der Tests ist auch immer wieder im Gespräch. Also der Prozentsatz der Tests, die positiv sind. Die Vorteile dieser Methode wären zum Beispiel, dass sie das Infektionsgeschehen genauso schnell wiedergibt, wie die Inzidenz – beide Zahlen werden ja aus denselben Daten gewonnen – aber die Zahl der durchgeführten Tests hat eben auch wieder einen Einfluss: Wenn in zwei Landkreisen gleich viele Menschen infiziert sind, im einen aber mehr getestet wird, dann wird dort auch die Positivrate niedriger sein.

Christian Karagiannidis, Sprecher der DIVI, schlägt deswegen eine Art Corona-Score vor, bei dem mehrere Indikatoren zusammengerechnet werden. So könnte man Vorteile der einzelnen Methoden hervorheben. Ein Nachteil der Methode wäre aber, dass die Zahl, die dabei rauskommt, nicht wirklich greifbar ist: Wenn beispiesweise in Mainz eine Inzidenz von 100 herrscht, dann man hochrechnen, dass sich da im Schnitt ungefähr 220 Menschen am Tag infizieren. Das kann man sich vorstellen. Wenn es aber beispielsweise einen Corona-Score von sieben geben würde, dann wüsste man erstmal nicht, was das bedeutet. Fazit: Das ist alles also leider nicht so ganz einfach.

Corona-Inzidenz (Foto: IMAGO, imago images/Rüdiger Wölk)
Die Corona-Inzidenz allein sagt noch nicht viel aus. Die Überlastung von Gesundheitsämtern ist auch von anderen Faktoren abhängig.

Wie groß sind die Chancen, dass die "bessere" Zahl/Kennzahl/etc. sich durchsetzen wird?

Im neuen Infektionsschutzgesetz wird das nicht mehr umgesetzt. Aber die Kritik an der Inzidenz wird immer lauter und die Gegenvorschläge immer konkreter. Die jetzt festgelegte Inzidenzgrenze gilt auch erstmal nur bis Ende Juni. Bis dahin könnten sich Wissenschaft und Politik auf ein besseres Verfahren zur Erfassung der Lage einigen.

Das würde auch besser vermitteln, dass sich die Politik mit der ja berechtigten Kritik an der Inzidenz auseinandersetzt und wäre ein positives Zeichen.