Darmstädter Jazzforum 2015 zum Thema „Gender“

Übung in der Reflexion erlernter Denkmuster

Stand

Von Autor/in Franziska Buhre

Buchkritik vom 22.6.2016

Jazz ist eine Männerdomäne. Nicht nur seine bekanntesten historischen und zeitgenössischen Protagonisten sind männlich, sondern auch das Publikum in einschlägigen Jazzclubs. Die männlichen Vertreter der Plattenindustrie produzieren Alben für männliche Käufer, und Programmmacher setzen bei Festivals noch immer vorwiegend auf Künstler ihres eigenen Geschlechts. Jazz erscheint heute noch immer als Bastion, die nach eigenen Gesetzen funktioniert, immun gegen aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen ist und unerfahrenen Menschen und Frauen keinen, oder nur erschwerten Zutritt gewährt. Wie es dazu kommen konnte, und welche kritischen Ansätze es womöglich bereits gibt, die allgegenwärtige Gleichung Jazz = Männermusik zu hinterfragen - dieser Thematik hat das 14. Jazzforum des Jazzinstituts Darmstadt im Herbst 2015 eine Tagung gewidmet, die erste ihrer Art zu Gender und Identität im Jazz im deutschsprachigen Raum. Nun sind die Beiträge in einem Sammelband erschienen.

Buddy Bolden war ein Kornettist in New Orleans um 1900, in der Entstehungsphase des Jazz in der Stadt am Mississippi, also mitten im Geschehen. Von ihm existiert aber keine einzige Tonaufnahme. Und so verließen sich die beiden Jazz-Enthusiasten William Russell und Steven Smith auf ihre Fantasie und beschrieben Buddy Bolden 1939 als Frauenhelden. Zwar benennen sie in ihrem Beitrag zur ersten Anthologie über Jazz in Buchform New Orleans erstmals explizit als Geburtsstätte dieser Musik. Gleichzeitig aber schreiben sie ein Narrativ fest, das sich bis heute in Erzählungen über Jazz wiederfindet: aktive, virile Musiker mit großem Sexappeal für Frauen. Solche Narrative arbeitet der Musikwissenschaftler Mario Dunkel im jüngsten Band der Beiträge zur Jazzforschung, herausgegeben vom Jazzinstitut Darmstadt, deutlich heraus. Dunkel legt überzeugend dar, wie sehr Kritiker, Fans, Musikforscher und selbst Musiker die Geschichte des Jazz auf heteronormative Perspektiven einengten und Jazz, je nach gesellschaftlicher Gemengelage, eine sexuelle Konnotation zu- oder absprachen. Über die weißen, politisch links gerichteten Kritiker und Herausgeber der Jazz-Anthologie von 1939 konstatiert er:

Die Musikerin, Ethnomusikologin und Frauenforscherin Yoko Suzuki aus Pittsburgh berichtet von ihrer Umfrage unter Saxofonistinnen in New York. Viele von ihnen schildern die Erwartung Anderer, so aggressiv, schnell und kräftig zu spielen, wie ihre männlichen Kollegen. Andere leugnen den permanenten Wettbewerb und lehnen das Klischee ab, sie als Frauen würden gefühlvoller spielen können. Suzukis Beitrag liest sich, wie auch die anderen, überwiegend englischen Texte im Buch, leicht verständlich und ist einer von zehn, die sich dezidiert mit Frauen im Jazz befassen. Das ist löblich und dennoch eine vertane Chance: Autorinnen schreiben über Musikerinnen und Autoren, von einer Ausnahme abgesehen, über Musiker. Heteronormative Perspektiven auf Jazz werden also nicht verlassen oder infrage gestellt. Der Begriff Gender, der schließlich multiple Identitäten und veränderliche Selbstbestimmungen bereithält, hätte von den Autorinnen und Autoren weit produktiver genutzt werden können.

Am Beispiel der afrofuturistischen Mythologie des Musikers, Komponisten und Bandleaders Sun Ra untersucht der Journalist John Murph aus Washington „queer undertones“. Gemeint sind Untertöne in Klang und Ästhetik Sun Ras, welche die zweigeschlechtliche Norm überschreiten. Sun Ra eröffnete sich und den Musikern seines Arkestra eine futuristische Gegenwelt, in der Männer und Frauen nicht auf maskuline und feminine Eigenschaften reduziert werden. Die Gegenwelt war vielmehr ein Möglichkeitsraum zur Performanz vielfältiger Identitäten jenseits der weißen amerikanischen Mehrheitsgesellschaft.

Sherrie Tucker gibt als einzige der Autorinnen und Autoren grundlegende Denkanstöße, die sich jeder Akteur im Jazz, ob Fan, Musiker oder Organisator, gleich welchen Geschlechts, zu Herzen nehmen sollte. Die Amerikanistik-Professorin und Jazzforscherin stellt nach mehreren Jahrzehnten aktiver Grundlagenforschung fest, dass Frauen im Jazz immer wieder explizit thematisiert werden, weil sie nicht von vornherein als Teil des Jazz angesehen werden. Anstatt weiter zwangsläufig inklusive Arbeit am Thema Frauen im Jazz zu betreiben, plädiert Tucker für Diversity Work, also für die Arbeit an der Vielfalt als kritische Praxis. Die aktive Zielsetzung von Vielfalt in Institutionen und in Reflexionen über Jazz ermöglicht multi-ethnische Perspektiven, nimmt auch diverse sexuelle Orientierungen und die Bedürfnisse anderer, gesellschaftlich marginalisierter Gruppen in den Blick. Die multi-perspektivische Um-Schreibung der Geschichte von Frauen im Jazz ist an uns alle gerichtet. Der Band vom Jazzinstitut Darmstadt ist vorerst eine kleine Übung in der Reflexion eigener erlernter Denkmuster.

Buchkritik vom 22.6.2016 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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Autor/in
Franziska Buhre