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Frauen, die Winterschlaf halten, sich in eine Pflanze, einen Hasen oder eine Meerjungfrau verwandeln wollen oder sich auf skurrilste Weise von der Gesellschaft abschotten, darüber wird aktuell auf der Social-Media-Plattform TikTok diskutiert. Der Name dieses Genres: „Weird Girl Fiction“, die Fiktion der seltsamen Mädchen.
Gefühl des Unbehagens beim Lesen
Ein Gefühl des Unbehagens und der unterschwelligen Bedrohung schwingt bei der „Weird Girl Fiction“ immer mit. Die Texte weisen Elemente des Magischen Realismus, traumhafte Episoden, surreale Bausteine und kafkaeske Komponenten auf. Obwohl in vielen Geschichten mit fantastischen Elementen gearbeitet wird, werden die Lebenswelten, anders als in der „Weird Fiction“, als real behandelt.
Die Geschichten drehen sich immer um außergewöhnliche weibliche Hauptfiguren, die durch ihre seltsame Art oder ihr Verhalten auffallen und dabei abseits von Erwartungen, die an sie als Frauen gestellt werden, agieren. Tabus werden gebrochen und gesellschaftliche Normen hinterfragt.

Seltsame Frauenfiguren als Beispiel für weibliche Emanzipation
Viele Protagonistinnen in „Weird Girl Fiction“-Büchern stehen für das Ausbrechen aus bestehenden Konventionen. Ihr rebellisches Verhalten gilt als Akt weiblicher Emanzipation.
Es werden Tabus gebrochen und auch weniger glamouröse Aspekte des Frauseins hemmungslos beschrieben: Ottessa Moshfegh lässt ihre Protagonistin in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ zum Beispiel tagelang ihre Haare nicht waschen und auf die Rasur ihrer Bikinizone verzichten. An anderen Stellen werden die Periode und Toilettengänge ungeschönt auserzählt und weibliche Begierde auf authentische Weise thematisiert.
Auch ungesunde Gruppendynamiken wie zum Beispiel in Dizz Tates Debütroman „Wir, wir, wir“ oder die Darstellung mystischer Tierwelten wie in Ottessa Moshfeghs „Lapvona“ sind Merkmale der „Weird Girl Fiction“.
Bücher mit schrägen Protagonistinnen
Warum sind diese Geschichten so beliebt bei der BookTok-Community? Kurze, emotionale Rezensionen, in denen skurrile oder schockierende Szenen hervorgehoben werden, machen diese Bücher besonders geeignet für virale Trends.
Die visuelle Natur der Plattform und der Fokus auf persönliche Erfahrungen schaffen eine unmittelbare Verbindung zwischen Leserinnen und den Protagonistinnen.

„Weird Girl Fiction“ ist eine Antwort auf die Sehnsucht nach Individualität, Selbstbestimmung und der Freiheit, anders zu sein. Indem es gesellschaftliche Normen in Frage stellt und außergewöhnliche weibliche Figuren ins Zentrum rückt, spricht es insbesondere junge Leserinnen an, die in diesen Geschichten ihre eigenen Kämpfe und Träume wiederfinden.
Diese drei „Weird Girl Fiction“-Romane lohnen einen Blick
- Ottessa Moshfegh: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung
- Han Kang: Die Vegetarierin
- Sayaka Murata: Das Seidenraupenzimmer
Die Figuren der folgenden drei Bücher eint, dass sie durch ihr skurriles Verhalten auffallen und sämtliche geschlechtsbezogene Erwartungen über Bord werfen.
Diese Protagonistinnen handeln ganz nach ihren eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen, auch wenn sie dabei teilweise auf Missverständnis stoßen, mit ihrem Handeln anecken und gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren. Skurril darf es dabei gerne werden!
Makabere Geschichte einer Frau, die Winterschlaf hält
Ottessa Moshfegh gilt als eine der größten Stimmen im Bereich des „Weird Girl Fiction“-Genres. Immer wieder tauchen ihre Romane „Lapvona“ und „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ in den Videos zum Thema auf den Sozialen Medien auf. Die Protagonistin in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ ist ein „Weird Girl“.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine junge Frau, die sich vornimmt, ein Jahr lang Winterschlaf zu halten und so die Welt um sich herum auszublenden. Um sich gezielt ins Delirium zu katapultieren, nimmt sie einen bunten Strauß an Schlaf- und Beruhigungsmedikamenten.
Viele Szenen werden ungeschönt und ehrlich, zum Teil auch abstoßend und ekelerregend, beschrieben, zum Beispiel wenn die Schläferin während ihres Winterschlafs phasenweise auf Körperpflege verzichtet.
Durch groteske Dialoge, der Rücksichtslosigkeit und Empathielosigkeit der Protagonistin und der dominierenden Kühle zwischen den Figuren schafft Moshfegh eine makabere Grundstimmung. „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ ist ein wahrer Klassiker der „Weird Girl Fiction“.
Gesellschaftliche Ausgrenzung durch Fleischverzicht
Dass Bücher, die in die Kategorie „Weird Girl Fiction“ passen, gleichzeitig weit oben in der Literatur-Liga mitspielen können, beweist auch die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang, die im vergangenen Herbst mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. In ihrem wohl bekanntesten Roman „Die Vegetarierin“ geht es um eine Frau, die sich entschließt, kein Fleisch mehr zu verspeisen.
Fünf Ehejahre verbrachte die Protagonistin mit ihrem Mann, der seine „gewöhnliche“ Frau, die fleißig für ihn kochte, putzte und die Wäsche machte, für selbstverständlich hinnahm – bis sie plötzlich durch ihren Fleischverzicht eine große Erschütterung und gesellschaftliche Ächtung auslöst. Ihr Umfeld versucht vehement, sie wieder zum Fleischessen zu bringen – wenn nötig auch mit Gewalt.
In Han Kangs Roman kommt ein weiteres Motiv zur Geltung, das in einigen Büchern der „Weird Girl Fiction“ zu finden ist: die Transformation. Sehr groß ist der Wunsch der Vegetarierin, sich in eine Pflanze zu verwandeln und somit kein Teil der Gesellschaft mehr zu sein.
Trotz der Schwierigkeiten, die der Fleischverzicht für Kangs Protagonistin mit sich bringt, bleibt sie bei ihrer Entscheidung. Es überwiegt die Sehnsucht nach Rebellion und danach, Konventionen abzustreifen, aus der Gesellschaft auszubrechen und selbst über den eigenen Körper bestimmen zu können. Ein Roman mit einer Protagonistin, die gesellschaftliche Ausgrenzung in Kauf nimmt, um für den Widerstand und gegen die Angepasstheit zu plädieren.
Identifikation als „Magical Girl“
In Sayaka Muratas skurrilem Roman „Das Seidenraupenzimmer“ ist das junge Mädchen Natsuki das „Weird Girl“ der Geschichte. Sie sucht ihren Ausweg aus der menschlichen Existenz und entwickelt dafür eine Überlebensstrategie, indem sie sich eine Gegenwelt erschafft und sich als „Magical Girl“ mit Zauberkräften zu identifizieren beginnt.
Das Mädchen kann und möchte die Erwartungen, die an sie gestellt werden, zum Beispiel bezüglich der Fortpflanzung und eines klassischen Familienlebens, nicht erfüllen. Selbst zuhause sieht sie sich als Außenseiterin.
Nur mit ihrem Cousin Yu fühlt sie sich verbunden – die beiden sehen sich sogar als Liebespaar. Natsuki wird von ihrem Lehrer missbraucht. Ihr Cousin und die Welt, die sie sich aufgebaut hat, geben ihr Halt.
Auch die japanische Autorin Sayaka Murata hat eine Tabu brechende Hauptfigur erschaffen, die kein Teil der normierten Gesellschaft sein möchte und stattdessen nach alternativen Lebensweisen und weiblicher Selbstbestimmung strebt.
Am Ende des Romans gibt es sogar Menschenfleisch zu essen – der „Weird Girl“-Score also auch in Muratas „Das Seidenraupenzimmer“ rundum erfüllt.