Tom Kummer - Von schlechten Eltern

Buch der Woche

Tom Kummer - Von schlechten Eltern

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Autor/in
Carsten Otte

Tom Kummer rollt in seinem neuen Roman durch die eigene Schwermut und die seiner Fahrgäste, er beschreibt eine Schweiz, in der Flüchtlinge an den Straßenrändern campieren und betuchte Herrschaften aus Afrika den Freitod in der Alpenrepublik suchen.

Auch der Ich-Erzähler, ein Chauffeur, hat mit den Folgen eines Todes zu kämpfen, denn er hat seine Frau an den Krebs verloren. Ein Trauerbuch auf Rädern, das sich im Finale zu einem berührenden Familienroman entwickelt.

Ein Autor mit dem schweren Erbe eines Medienskandals

Der 1961 in Bern geborene Autor Tom Kummer wird wohl ein Leben lang mit einem der größten Medienskandale im deutschsprachigen Raum verbunden sein.

Vor zwanzig Jahren kam heraus, dass er zahlreiche Interviews mit Hollywood-Stars fingiert hatte.

Autor Tom Kummer
Autor Tom Kummer

Der Neuanfang Kummers erfolgte 2017

Die beim Publikum beliebten, aber erfundenen Gespräche erschütterten die Süddeutsche Zeitung, in deren Magazin die meisten Beiträge Kummers erschienen.

Es gab nach dem Skandal immer wieder journalistische Comeback-Versuche, die aber aus unterschiedlichen Gründen kritisiert wurden.

2017 erschien sein Roman „Nina & Tom“, eine autofiktionale Geschichte, in der das langsame Sterben seiner an Krebs erkrankte Frau erzählt wird.

Das Buch wurde von der Kritik gefeiert, auch weil es als echter Neubeginn Kummers gewertet wurde, weg vom Journalismus hin zur Literatur, in der Collagen und Zitate, Textmixturen, Erlebtes und Erfundenes gut zueinander fanden.

Der Einstieg in den Roman: unheimlich und visionär zugleich

Nun ist sein neuer Roman „Von schlechten Eltern“ erschienen, aus dem er beim Bachmannpreis im vergangenen Jahr gelesen hat und der einen Schriftsteller zeigt, der seinen eigenen Ton gefunden hat.

Der Romaneinstieg ist so unheimlich wie visionär. Ein Chauffeur fährt in einer Luxuslimousine durch die Nacht. Die Dörfer, durch die der Wagen rollt, wirken auf den Ich-Erzähler, „als gäbe es eine Ausgangssperre“.

Der Fahrgast schläft. Aber dann:

„Irgendwann erwacht mein Passagier. Er hustet.“

Die Stimmung des Romans erinnert an die Ausnahmesituation durch das Coronavirus

Tom Kummer hat keineswegs den ersten Corona-Roman geschrieben, aber er hat in „Von schlechten Eltern“ bedrückend anschaulich die Stimmung eines Landes in einer apokalyptischen Ausnahmesituation beschrieben.

Die Gegend rund um den Zürichsee, die an landschaftlicher Schönheit kaum zu überbieten ist, wirkt bedrohlich. Auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in der sonst so aufgeräumten Schweiz scheinen sich grundlegend verändert zu haben.

Tom ist Chauffeur für wohlhabende Afrikaner

Plötzlich erkennt der Protagonist, der wie der Autor heißt, dunkle Gestalten am Straßenrand. Es sind Flüchtlinge aus Afrika, die wild kampieren oder nach einer Mitfahrgelegenheit suchen.

Auch Tom kutschiert zumeist Afrikaner durchs Land, vom Flughafen zu einem Meeting und später dann ins Hotel. Was draußen los ist, scheint die meisten Fahrgäste nicht zu interessieren.

Wir nähern uns der Stadt. Der Turm der Verbrennungsanlage glimmt im roten Kunstlicht, sie gleicht einem riesigen Schiff aus Beton. Mein Passagier kann nichts erkennen. Er ist wieder in sein iPad vertieft. Er sieht nicht die Kolonnen von alten Menschen. Klein und gebeugt bewegen sie sich, gestützt auf ihre schwarzen Stöcke, zur Verbrennungsanlage. Dann der lange Boulevard Richtung Stadtzentrum. Bern ist eine Geisterstadt, kalt und trostlos.

Die Omnipräsenz des Todes sorgt für Gänsehaut

Der Tod ist allgegenwärtig in diesem düsteren Roman, der mit vielen Gänsehautsätzen und skurrilen Szenen beeindruckt: Ein Oberst aus Libyen ist aus seiner Heimat angereist, um sich in der Schweiz von einem Felsen zu stürzen.

Tom führt den Mann in die Berge, im Auto warten Frau und Kinder. Ob für seine Familie gesorgt sei, fragt Tom. Die Antwort des Todessüchtigen lautet:

Es ist für alle gesorgt. Auch für mich. Sie können gehen. Gehen Sie nur.

Das blanke Überleben ist für Tom nicht genug

Das beruhigt den Erzähler nicht wirklich. Seine Nervosität verschwindet erst, als die eingeweihte Frau schon kurz nach dem Suizid erklärt, der gerade verstorbene Gatte sei der „schlimmste Mann der Welt“ gewesen und sein Tod „gut für uns alle“.

Für den Chauffeur aber gilt das nicht, denn Tom fährt gegen den Tod an. Die Sehnsucht nach dem Selbstmord ist ihm fremd. Er hat seine Frau Nina an den Krebs verloren.

Nun ist er Vater und Mutter zugleich, kämpft um sich und die Kinder, wird zwischen Job und Familienalltag aufgerieben. Aber er will überleben, mehr noch, er will gut leben. Was auch immer das heißen mag.

Die Vergangenheit des Paars aus „Nina & Tom“ schwingt auch in diesem Roman mit

Natürlich scheitert dieser traurige Held immer wieder an den kleinen und manchmal auch größeren Herausforderungen, aber am Ende werden seine Kinder niemals sagen, sie kämen von schlechten Eltern.

Und das ist durchaus erstaunlich, wenn man das turbulente Eheleben und den erschütternden Sterbeprozess bedenkt, den Tom Kummer in seinem autofiktionalen Vorgängerroman „Nina & Tom“ ausgebreitet hat.

Die Vergangenheit des Paars ist auch im neuen Werk immer präsent. In kurzen Flashbacks wird sie erzählt und bildet doch einen emotionalen Subtext, der das gesamte Geschehen prägt.

Erinnerungen an Barcelona. Sie war achtzehn, ich war einundzwanzig, sie weinte. Nie habe ich neben einem Menschen gelegen, der nach dem Sex geweint hat. (…) Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass sich so was wiederholen würde.

Kummers krasse Subjektivität überschattet den Roman

Tom Kummer schreibt in einer reduzierten Sprache über einen Mann, der seine Frau über den Tod hinaus liebt.

So eindringlich wird diese Sehnsucht geschildert, dass sich schon bald nicht mehr die Frage stellt, inwieweit es sich bei der Erzählstimme um ein fiktives Ich oder doch den realen Autor handelt, der sich seinen Lebensunterhalt tatsächlich als Taxifahrer verdient.

Kummers Subjektivität ist so radikal, dass ihr immer auch etwas Hyperreales anhaftet. Als der Autor noch als Journalist arbeitete und in Amerika lebte, erfand er Interviews mit schrillen Storys und befriedigte die Gier des Publikums mit Klatsch aus der Promiwelt.

Kummer hat einen eigenen literarischen Tonfall gefunden

Als Schriftsteller, der er im Grunde immer war, vertraut Kummer endlich einer ruhigen Prosa, die sich vom Sensationsdruck unabhängig gemacht hat.

Mein Fahrgast diktiert das Reiseziel. Im Kopf fahre ich, wohin ich will.

Solche Formulierungen dürfen bei Tom Kummer auch programmatisch verstanden werden. Er hat seinen eigenen literarischen Tonfall gefunden, den er beim Bachmannpreis im vergangenen Jahr eindrucksvoll präsentierte.

Die Geister der Vergangenheit spielten auch bei der Bewertung des Romans eine Rolle

Einen bösen Buben des Gonzo-Journalismus hatte man erwartet, und es trat ein Schriftsteller auf, der seine publizistischen Missetaten nicht einmal mehr im Rückspiegel seines literarischen Roadmovies aufscheinen ließ.

Der Text rief in Klagenfurt durchaus unterschiedliche Reaktionen bei Publikum und Jury hervor. Die journalistischen Lügen, die dieser Mann einst veröffentlichte, verdeckten da noch immer die literarische Wahrheit, auf dessen Spur er sich nun befindet.

WARUM DIESES BUCH: Tom Kummer hat keineswegs den ersten Corona-Roman geschrieben, aber er hat in „Von schlechten Eltern“ bedrückend anschaulich die Stimmung eines Landes in einer apokalyptischen Ausnahmesituation beschrieben.

Tom Kummers Reise ist noch lange nicht am Ende angelangt

Tom Kummer hat eine lange Reise angetreten, die bestimmt nicht im Luxustaxi enden, sondern vielleicht schon bald als Anhalter durch dann auch andere sprachliche Galaxien führen wird.

Wenn seine Trauerarbeit gänzlich abgeschlossen ist, wenn der Schrecken übers eigene Leben schwindet, könnte der pathetisch dargebotene Gefühlsüberschuss, der manchmal manipulative Züge trägt, in weiteren starken Erzählungen münden, die von Selbstbefreiung handeln, ohne anderen zu schaden.

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Carsten Otte