Tal Sterngast – Zwölf Bilder (Foto: Pressestelle, Hatje Cantz Verlag; Heike Steinweg)

Buch der Woche

Tal Sterngast – Zwölf Bilder. Betrachtungen aus der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin

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AUTOR/IN
Andrea Heinze

Von Caravaggio bis Vermeer – was erzählen uns die Werke der alten Meister? Die Kunstkritikerin Tal Sterngast streift durch Berlins Gemäldegalerie. Anschaulich und mit Blick fürs Detail erläutert sie dabei nicht nur Stil und Machart der Werke, sondern findet in ihnen etliche Anknüpfungspunkte an aktuelle gesellschaftliche Debatten.

Machtmissbrauch, MeToo und Meinungsfreiheit lassen sich an den fünfhundert Jahre alten Gemälden verblüffend gut verhandeln. Und Tal Sterngast zeigt in ihrem liebevoll gestalteten Buch auch: Manche Künstler waren vor ein paar Jahrhunderten wesentlich aufgeklärter und aufgeschlossener als ihre Nachfolger*innen heute.

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Caravaggios jahrhundertealtes Gemälde würde auf Facebook gesperrt werden

Auf Facebook hätte Caravaggio sein Bild nicht veröffentlichen dürfen: der Junge, der da nackt und in aufreizender Pose gezeigt wird, ist keine 14 Jahre alt und sein vorwitziges Genital liegt auf dem Schnittpunkt zweier Bilddiagonalen. Die Blicke der Betrachtenden werden geradezu darauf gelenkt.

Würde man heute ein Kind auf diese Weise fotografieren, gälte das als Kinderpornografie. Das Caravaggio-Gemälde „Amor als Sieger“ hängt in der Berliner Gemäldegalerie, die über jeden Verdacht des Missbrauchs erhaben ist.

Es ist das erste Gemälde, das Tal Sterngast in ihrer Aufsatzsammlung „12 Bilder“ beschreibt. Als Caravaggio das Bild zu Beginn des 17. Jahrhunderts gemalt hat, war derlei unverhüllte Erotik nicht salonfähig.

Obwohl Caravaggios Kunst unbestritten ist, ist es die Ausstellung seiner Werke keineswegs

Die beiden Brüder, denen es gehörte, sollen es hinter einem schwarzen Vorhang versteckt nur guten Freuden gezeigt haben. Einer der Brüder war ein Kardinal – ausgerechnet. Doch es war nicht allein die Provokation, die die beiden Kunstliebhaber an dem Bild reizte, erzählt Tal Sterngast.

Autorin Tal Sterngast (Foto: Pressestelle, Heike Steinweg)
Autorin Tal Sterngast

Caravagio war in seiner Zeit eine sehr kontroverse Figur. Neben der Provokation ist das Gemälde „Amor als Sieger“ aber auch interessant, weil es den Raum ganz neu konstruiert. Der kleine Engel – dieser Junge verführt den Betrachter nicht nur, er lädt ihn mit einer Geste auch ein, in das Bild hineinzukommen, hinter ihn zu treten. Das Gemälde ist also beides: Es ist erotisch aufgeladen. Und es lässt den Betrachter zum Teilnehmer werden und verändert damit etwas sehr Grundlegendes an der Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Gemälde.

Die Leistungen von Caravaggio als Künstler sind unbestritten – wohl auch deshalb kann ein dermaßen sexuell provozierendes Bild unbehelligt in einem Museum hängen. Doch das ist nicht mehr selbstverständlich.

Es gab Forderungen, Kunstwerke aus Museen zu entfernen

Als Tal Sterngast im Jahr 2017 die ersten Aufsätze über Bilder der Berliner Gemäldegalerie schrieb, gab es vor allem in den USA immer wieder Forderungen, Kunstwerke aus den Museen zu entfernen.

Zum Beispiel das Bild „Therese Dreaming“ von Balthus, auf dem ein junges Mädchen in aufreizender Pose den Blick auf ihre Unterhose freigibt. Balthus würde zur Verdinglichung und Sexualisierung von Kindern beitragen, hieß es damals in einer Online-Petition gegen das Bild.

Die Medien berichteten zur gleichen Zeit vom mehrfachen Missbrauch durch den Filmproduzenten Harvey Weinstein in Hollywood und die #meetoo-Kampagne war auf ihrem Höhepunkt angelangt, die Stimmung entsprechend aufgeheizt, erinnert sich Tal Sterngast, um anzumerken:

In einer Calvin-Klein-Werbung finden sich mehr Sexualisierung, Anzeichen von Missbrauch und Verdinglichung, als in jedem beliebigen Gemälde. Darüber hinaus werden die Bilder, die heute durch die sozialen Medien zirkulieren und unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, hergestellt, indem die Parameter der Verdinglichung internalisiert und zur Selbstdarstellung und als ökonomische Strategie genutzt werden.

Sterngast setzt Bilder der Kunst und Alltag ins Verhältnis

Soll heißen: soziale Medien heute produzieren das, was sie im nächsten Atemzug kritisieren. Die Aufsätze von Tal Sterngast sind nicht unbedingt leicht zu konsumieren – doch es lohnt sich. Denn die Autorin setzt die Bildwelten der Kunst ins Verhältnis zu den Bildwelten der Alltagskultur.

Das ist eine sehr explosive Diskussion, die gerade geführt wird. Und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Das gilt auch für die Bilder, die wir von der Erstürmung des Kapitols in Washington gesehen haben. Es ist Krieg, ein Kulturkrieg, indem es um die Symbole der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft geht. Es gibt sehr viele Symbole in diesem Krieg und die Gemälde in Museen werden Teil dieses Krieges. Aber ich denke, die sollten anders behandelt werden als Werbung oder journalistische Fotos.

Die Diskussion um Kunst darf nicht auf eine Ebene reduziert werden

Tal Sterngast streitet dafür, die Kunstwerke etwa der Alten Meister nicht gleichzusetzen mit den medialen Bilderwelten der Gegenwart. Gute Kunst funktioniere auf unterschiedlichen Ebenen – und die Diskussion über ein Werk sollte daher nicht auf eine Ebene reduziert werden.

Das zeigt die Autorin zum Beispiel an dem umstrittenen  Bildes „Open Casket“ von Dana Schutz. Die Künstlerin malte eine Fotografie ab vom offenen Sarg des 14-jährigen Emmett Till, der 1955 einem Lynchmord zum Opfer fiel. Das Foto war da längst zu einer Ikone der schwarzen Bürgerbewegung geworden.

Das Gemälde von Dana Schutz hingegen machte viele Schwarze wütend – auch weil sie der Künstlerin stellvertretend vorwarfen, als Weiße mit den Symbolen von Minderheiten Geld zu verdienen. Auch hier forderten viele, das Gemälde zu zerstören.

Kunst ist weder richtig noch falsch

Solche Forderungen findet Tal Sterngast problematisch, sieht in ihnen eine Form von Zensur. Stattdessen sollte man sich auch mit schwierigen Bildern wie „Open Casket“ inhaltlich und gestalterisch auseinandersetzen.

Sie macht ein sehr farbiges, illustrierendes Gemälde von diesem sehr schmerzhaften und wichtigen politischen Bild – und zwar ohne ein klares Statement oder eine interessante Fragestellung. Es macht den Anschein, als würde sie einfach nur provozieren wollen – oder als hätte sie keine Ahnung. Ich kann also verstehen, dass Menschen empört darüber sind. Aber ich glaube eben nicht, dass es eine Lösung ist, das Bild zu zerstören oder von der Wand zu nehmen.

Kunst ist nicht richtig oder falsch – sie ist einfach nur gut oder schlecht. Das zeigt Tal Sterngast immer wieder in ihren Aufsätzen. Und sie zeigt wie die Alten Meister bis heute relevant sind.

Sterngast gelingt ein Plädoyer für die Kontroversität von Kunst

Etwa wie der flämische Maler Jan van Eyck mit seiner „Madonna in der Kirche“ schon im 15. Jahrhundert den Grundstein für die moderne Malerei legte. So richtig groß sind ihre Texte da, wo sie den Bezug der Alten Meister zu aktuellen Diskussionen herstellen.

Wenn ich daran denke, was Kunst bedeutete, als ich anfing mich dafür zu interessieren und was mich daran angezogen hat, dann ist das das Gegenteil von einem Safe Space. Es war ein Raum der Kontroversen, der Diskussionen und der Herausforderungen. Ein Safe Space bedeutet doch, dass wir so zerbrechlich sind oder empört von was auch immer, dass wir mit Herausforderungen nicht umgehen können. Ein Safe Place schützt uns vor dem, was wir nicht ausstehen können.

Mit ihrer Aufsatzsammlung „12 Bilder“ hat Tal Sterngast ein Plädoyer dafür geschrieben, dass Kunst kontrovers sein darf. Das bedeutet auch, dass Kunst weh tun kann.

Kunst ist kein Safe Place

Ein Safe Place, also ein sicherer Ort, an dem Minderheiten vor verletzenden Äußerungen der Mehrheitsgesellschaft geschützt sind, soll Kunst so wenig sein, wie ein Ort, an dem die bürgerliche Gesellschaft sich ungestört der Distinktion hingeben kann.

Schade, dass diese Binse der Kunstkritik offenbar wieder vehement verteidigt werden muss. Tal Sterngast ist anzurechnen, dass sie es tut – klug, belesen und mutig.

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Andrea Heinze