Bericht

Russische Autoren im Exil – Auf der Suche nach einer neuen Sprache

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AUTOR/IN
Julia Smilga

Nach dem Angriff auf die Ukraine und mit Zunahme der Unterdrückung durch Putins Regime haben viele oppositionelle Autorinnen und Autoren Russland verlassen. Im europäischen Exil versuchen sie eine neue Existenz aufzubauen. Maxim Ossipow und Natalja Kljutscharewa berichten, wie es ihnen dabei geht. Und warum das Buch eines Deutschen ihnen hilft.

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„Am ersten Tag waren wir sprachlos und schauten die ganze Zeit den Fernsehsender Doschd. Dort gab es Aufrufe, um sieben Uhr abends in unseren Städten auf die Straße zu gehen, um gegen den Krieg zu protestieren. Bei uns in Tarusa waren wir nur zu siebt, es war dunkel. Und die Polizei hat uns bewusst ignoriert, aus Rücksicht, weil die alle einmal unsere Patienten waren.“ (Maxim Ossipow)

So erinnert sich der Arzt und Schriftsteller Maxim Ossipow an den 24. Februar 2022, der Tag, an dem Russland die Ukraine überfiel. In der kleinen Stadt Tarusa, hundert Kilometer von Moskau entfernt, hat Ossipow über zehn Jahre lang ein kardiologisches Zentrum aufgebaut und geleitet. In seiner freien Zeit schrieb er Erzählungen über die Menschen in der russischen Provinz. Schonungslose, aber auch humorvolle und sympathische Schilderungen aus dem postsowjetischen Alltag. Seine Texte wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Putins Wiederwahl 2012 als Wendepunkt

Nie hat Maxim Ossipow daran gedacht, Russland verlassen zu müssen. Auch wenn ihm die Entwicklung in seinem Land hin zur Diktatur bewusst war – spätestens als Putin sich 2012 wieder zum Präsidenten wählen ließ.

„Für mich war der Wendepunkt der Rollentausch zwischen Putin und Medwedew, als klar wurde, dass Putin wieder in sein Präsidentenamt zurückwollte. Damals verließ ich alle öffentlichen Räte in Moskau, in denen ich Mitglied war, und habe mich als Arzt nach Tarusa zurückgezogen Ich dachte, dass ich da bis zu meinem Lebensende bleibe. Aber dann ist es anders gekommen.“ (Maxim Ossipow)

Maxim Ossipow floh gleich zu Kriegsbeginn, andere Autorinnen und Autoren sind länger geblieben. Natalja Kljutscharewa zum Beispiel. Die Schriftstellerin wohnte bis vor kurzem in der altrussischen Stadt Yaroslavl, 270 Kilometer von Moskau entfernt und unterrichtete an der dortigen Universität russische Literatur. Der Ukraine Krieg ist für sie ein Schock.

„Was 2022 geschah, war völlig unerwartet. Es war etwas Unglaubliches. Ich konnte es nicht begreifen: Wir – im Krieg mit der Ukraine? Nein, nein, nein, das ist unmöglich. Mit der Ukraine gibt es so viele Verbindungen und Verflechtungen. Es war für mich sehr schwer, überhaupt zu begreifen, dass dieser Krieg tatsächlich stattfindet.“ (Natalia Kljutscharewa)

Natalja Kljutscharewa: „Seit Kriegsbeginn kann ich nicht mehr belletristisch schreiben“

Natalia Kljutscharewa schreibt Dramastücke und Novellen. Zuletzt ist von ihr auf Deutsch das „Tagebuch vom Ende der Welt“ erschienen. Belletristisch schreiben kann sie seit Kriegsbeginn nicht mehr. In ihrem Tagebuch beschreibt sie anekdotisch, in kurzen Notizen den gesellschaftlichen Wandel in Russland, berichtet von Repressionen, der eigenen Ohnmacht und Schamgefühlen.

„Als Schriftstellerin brauche ich Verständnis für das, was vor sich geht, um ein fiktives Werk zu schaffen, eine Art „Blick von oben“ – und ich muss hoffen können, ich brauche ein „Licht am Ende des Tunnels“. Aber in dieser Situation, mit dem Krieg, gibt es keine Hoffnung, keine Ahnung davon, wie das enden könnte und was danach kommt. Ich kann die Realität nur einfach so einfangen, wie sie ist. Und die Hauptstimmung ist: Tränen und die Angst.“ (Natalia Kljutscharewa)

In ihrem Kriegstagebuch schildert die 42-jährige Autorin, wie der Kreis um sie immer kleiner wird, wie enge Freunde Russland aus Protest verlassen, wie der Krieg den Alltag durchdringt und die Gesellschaft verändert.

„Ich komme in die Kinderbibliothek. An der Wand hängt ein Kinderkalender. Jeder Tag ist etwas Lustigem gewidmet: Tag der Gummistiefel, Tag des Mittagsschlafs. Und plötzlich mitten in dieser Niedlichkeit in einem Kästchen ein schwarzer Mann mit Helm und Kalaschnikow. Darunter 'Tag der Truppen der Spezialoperation der Russischen Föderation'.“ (Zitat Tagebuch vom Ende der Welt)

Spezialoperation – nur so darf der Krieg gegen die Ukraine in Russland bis heute genannt werden. Wer „Krieg“ sagt, kann wegen Verleumdung der russischen Armee angeklagt werden. Zehntausende Kreml-Kritiker wurden seither verurteilt, sind hinter Gittern oder in Straflagern Natalia Kljutscharewa schreibt trotz der Gefahr Antikriegsgedichte und veröffentlicht sie auf Facebook.

„Zu schweigen wäre für meine Psyche gefährlicher gewesen. Es war das Einzige, was mich über Wasser gehalten hat. Die Gedichte haben mich unterstützt, mir Halt gegeben. Viele Leser haben mir gesagt – pass auf Dich auf! Aber sie waren alle dankbar, dass es diese Texte gab, mit denen sie auch ihre Gefühle ausdrücken konnten.“ (Natalia Kljutscharewa)

Natalia Kljutscharewa fühlt sich in Russland gebraucht. Auch wenn viele Russen um sie herum die Staatspropaganda verinnerlicht haben und den Krieg unterstützen. Die Schriftstellerin möchte den Dialog mit ihren Lesern und Leserinnen nicht abreißen lassen.

„Die Propaganda in Russland ist zu siebzig Prozent auf Lügen aufgebaut und sie vergiftet die Menschen, sie verlieren sich in diesem Chaos aus Lügen, sie wirken nicht natürlich in ihren Reaktionen, in ihrer Körperlichkeit, mit ihren Zitaten aus den Fernsehsendungen. Im letzten und in diesem Jahr bin ich viel aufgetreten, ich hatte viele persönliche Begegnungen, und ich habe gesehen, dass das für die Menschen wichtig war.“ (Natalia Kljutscharewa)

Ihnen fehlt es einfach an Menschlichkeit, mittlerweile ist es fast schon wie ein Protest, in Zeiten des vorherrschenden künstlichen Pathos über menschliche Werte, über Freundlichkeit und Barmherzigkeit zu sprechen. Das war für mich sehr wichtig, es ist sehr wenig im Vergleich zu dem globalen Horror, der vor sich geht. Aber auf der Ebene des persönlichen Schicksals eines jeden Menschen war es wichtig.“

Maxim Ossipow: „Angst, Ekel, Hass – für den Rest meines Lebens“

Während es für Kljutschajowa wichtig ist, in dieser Zeit in Russland zu bleiben und trotz all dem Schock und der Trauer zu schreiben, hält der Arzt und Schriftsteller Maxim Ossipow in seinem Land kaum eine Woche nach dem Ukraineüberfall aus:

„Am sechsten Tag wachte ich auf und spürte eine Kombination aus Angst, Ekel und Hass. Und mir war klar, dass ich dieses Gefühl jetzt für den Rest meines Lebens haben werde. Ich habe 27 Jahre lang im Sozialismus gelebt, und jetzt, mit 58 soll ich unter Faschismus und Totalitarismus leben? Wir haben Tickets gekauft nach Eriwan in Armenien und sind am nächsten Tag geflogen. So war das.“ (Maxim Ossipow)

Über Eriwan und Berlin, wo seine Tochter seit 2014 wohnt, kommt Maxim Ossipow mit seiner Frau nach Amsterdam. Dort lehrt er seither an der Universität Leyden russische Literatur und bringt die literarische Zeitschrift „Die fünfte Welle“ auf Russisch heraus. Darin erscheinen Texte vieler seiner Schriftstellerkollegen, die ebenfalls gegangen sind.

Maxim Ossipow hat, seit er im Exil lebt, nur einen einzigen Artikel veröffentlicht – eine Reportage über seine Flucht im März 2022 unter dem Titel „Frostig, beschämt, befreit“. Der Titel bezieht sich auf die letzten Worte der Erinnerungen von Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“. In dem Buch verfolgt der jüdische Journalist Haffner aus dem Londoner Exil den Aufstieg der Nationalsozialisten. Ossipow schreibt über „Die Geschichte eines Deutschen“:

Dieses Buch über die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland haben wir letztes Jahr alle gelesen, wir suchten nach Übereinstimmungen mit unserer Realität, in der wir seit letztem Jahr existieren – im Exil in Yerewan, Tiflis, Baku, Istanbul oder Tel Aviv. Frostig, beschämt und befreit – so fühlen nun auch wir. Wir, die weggingen, die den Krieg gegen die Ukraine und ihre Initiatoren hassen. Wir wollten nie die Heimat, unser Vaterland verlassen. All diese Worte sind nun beschmutzt und entehrt. (Zitat aus „Frostig, beschämt, befreit“)

Auch Natalia Kljutscharewa findet viele Parallelen zwischen Hitlers Propaganda und den Kremlnarrativen. Wegen eines pazifistischen Theaterstückes über den deutschen Arzt Kurt Reuber, der die berühmte „Madonna von Stalingrad“ zeichnete und 1944 in einem russischen Kriegsgefangenenlager starb, wurde sie denunziert.

Eine Kritikerin beschuldigte sie der „Befürwortung von Nationalsozialismus“, wofür in Russland eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren droht. Hals über Kopf ist Natalia Kljutscharewa mit ihren zwei Töchtern nach Deutschland geflohen. Seit dem 4. September wohnt sie in einem Flüchtlingslager in Landshut in Bayern.

„Es ist ein solches Gefühl des Verlustes, als ob ein geliebter Mensch gestorben wäre. Ich habe große Angst davor, mit dem Schreiben aufzuhören und die Sprache zu verlieren, weil das sprachliche Umfeld völlig anders ist. Und ich habe auch Angst, das Verständnis für die Menschen, die dortgeblieben sind, zu verlieren, sie nur über die Nachrichten zu sehen, anzufangen sie zu dämonisieren. Hier im Flüchtlingsheim habe ich viele Ukrainerinnen kennengelernt – vielleicht werde ich ihre Geschichten aufzeichnen? Ich bleibe bei der Dokumentation der Realität, denke ich.“ (Natalia Kljutscharewa)

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Mit Büchern von Louis-Ferdinand Céline, Monika Maron, Adrian Pouviseh und Roberto Simanowski

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