Buchkritik

Mieko Kawakami – All die Liebenden der Nacht

Stand
AUTOR/IN
Kristine Harthauer

Die Autorin Mieko Kawakami ist ein Star in ihrer Heimat Japan: In ihren Büchern wie „Brüste und Eier“ oder „Heaven“ beleuchtet sie die junge, japanische Gesellschaft. So auch in ihrem Roman „All die Liebenden der Nacht“, der bereits 2011 in Japan erschienen ist und erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde. Ein Buch über eine einsame, schüchterne junge Frau, die nichts kennt, außer ihren Job und die eines Tages beschließt, auszubrechen. Ein berührender Roman, der in seinem eigenen, langsamen Rhythmus die Hauptfigur zum Leuchten bringt, findet Kristine Harthauer.

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Eigentlich, könnte man meinen, hat Fuyuko Irië so gar nichts von einer interessanten Hauptfigur: Sie lebt in der Millionenstadt Tokyo, ist eine von vielen, lebt ein fleißiges, unauffälliges Leben, ohne Kontakt zu ihrer Familie, ohne Beziehungen. Ihren Alltag füllt sie mit ihrer Arbeit – Homeoffice, in einem kleinen Apartment irgendwo in Tokyo:

Seit ich als Korrekturleserin arbeitete, schaute ich so gut wie kein Fernsehen mehr, weil es mich ärgerte, dass ich die Fehler, die mir bei Texteinblendungen auffielen, nicht verbessern konnte. Ich hörte keine Musik, und Freunde, mit denen ich hätte telefonieren oder ausgehen können, hatte ich auch nicht. Was in aller Welt machte ich Abend für Abend bis zum Schlafengehen? Wie in aller Welt füllte ich die schier unendliche Zeit, bis ich wieder anfing zu arbeiten? Mir fiel nichts ein. Das Einzige, was mir einfiel, war ein säuberlich bedrucktes weißes Blatt Papier.

Fuyuko korrigiert Manuskripte von Büchern, die andere geschrieben haben. Tag für Tag sitzt sie an ihrem provisorisch gebauten Schreibtisch und sucht nach Fehlern. Ein leiser, unscheinbarer Job für eine leise, unscheinbare Frau. Doch eines Tages erschrickt Fuyuko – vor ihrer eigenen Spiegelung in einem Schaufenster:

Die Gestalt, die sich von der Fassade, den Schildern, Wänden und Fenstern des Nebengebäudes dunkel abhob, sah erbärmlich aus. Sie hatte hängende Schultern, tief liegende Augen und kurze Arme und Beine. Die Wangen waren so eingefallen, dass sich von der Nase in Richtung Mund tiefe Falten gegraben hatten. Die Frau, die mir entgegensah, war ich. In Strickjacke und verwaschenen Jeans. Vierunddreißig Jahre alt. Allein. Eine erbärmliche Frau, die selbst hier in der Stadt und bei schönstem Wetter nicht wusste, wie man lebt.

Noch auf derselben Seite, im nächsten Absatz erfahren wir von Fuyukos radikaler Wandlung: Sie beginnt zu trinken. Nicht so, dass es auffällt oder sie nicht mehr ordentlich arbeiten könnte. Sie trinkt abends, immer allein und immer ein bisschen mehr.

Es gibt im Japanischen sogar ein Wort für Menschen, die mit der Außenwelt keinen Kontakt mehr haben und nur noch einsam in ihren Apartments leben. Über eine Million Menschen gelten als „Hikikomori“ – als die, die sich zurückziehen.

Mit nur einer langsam geleerten Dose Bier, einem Wasserglas Sake gelang es mir, nicht mehr ich zu sein. Langsam, aber sicher löste ich mich auf. Meine Angelegenheiten wurden zu den Angelegenheiten einer anderen Person. Ich sah nicht mehr zu Boden. Ich fühlte mich beschwingt.

Ohne Vorurteile, man muss sagen fast schon geduldig, richtet Autorin Mieko Kawakami in ihrem neuen Roman den Blick auf eine Frau im Japan der Gegenwart. Aber auf eine, die sich den sozialen Zwängen und dem hohen Tempo der japanischen Gesellschaft entzieht. Und dabei immer weiter in den Schatten gerät.

Fuyuko kümmert sich nicht um ihre Außenwirkung, um ihre Zukunft oder um Fragen wie Ehe oder Kinder. Einmal blättert sie neugierig durch Ratgeber zu diesen Themen, um dann festzustellen: Sie handeln von einer Welt, zu der sie niemand eingeladen hat.

Fuyuko ist aber auch nicht wie ihre gleichaltrige Kollegin Hijiri: Die gibt sich als selbstbewusste und attraktive Single-Frau, die für ihre Arbeit lebt und das schnelle Abenteuer mit Männern sucht. Eine Kopie von Hijiri möchte Fuyuko nicht werden. Aber wer ist sie dann? Der Alkohol gibt Fuyuko zwar den Mut, aktiver am Leben teilzunehmen.

Aber das Trinken bleibt nicht ohne Konsequenzen. Sie besucht ein Kulturzentrum, um sich für einen Kurs anzumelden. Doch sie ist zu betrunken. Ein Herr Mitsutsuka hilft ihr. Der über zwanzig Jahre ältere Physiklehrer wird zu einem guten Bekannten, zu einem leisen Flirt.

Langsam und stockend unterhalten sie sich bei ihren Treffen, immer im selben Café, am selben Tisch. Das Thema, das sie verbindet und fasziniert ist das Licht. Er erklärt ihr alles, was sie dazu wissen will. Und er schenkt Fuyuko eine CD mit dem Wiegenlied von Chopin, das wie Licht klingen soll.

Die Melodie war tatsächlich lichterfüllt. Jeder Ton blinzelte durch das blasse Dunkel hinter meinen Lidern, als deutete er irgendwohin, Die Augen geschlossen, saß ich auf meinem Stuhl und gab mich diesem hellen Blinzeln, anders kann man es nicht beschreiben, widerstandslos hin.

Von großen Verunsicherungen bis hin zu den kleinsten Erschütterungen: Mieko Kawakami beschreibt das Innere Fuyukos in einer einfachen, aber berührenden Sprache. Unaufdringlich, aber beständig zieht sich das Licht-Motiv durch den Roman: Ist Fuyuko zu Beginn noch jemand, die Licht mehr absorbiert, als selbst zu strahlen, emanzipiert sie sich im Laufe der Geschichte. Und das von sich aus, ohne den Alkohol und ohne Herrn Mitsutsuka.

In Japan gilt die Autorin Mieko Kawakami mittlerweile als ein Star. Das nutzt sie geschickt, um ihre Themen publik zu machen: Feminismus, Herkunft aus armen Verhältnissen, die Schattenseiten kapitalistischer Glitzerwelten. Auf Social Media dreht sich derzeit alles um möglichst viel Aufmerksamkeit, darum, wieviel sie einbringt und um das inszenierte Glück.

Mieko Kawakami bringt in ihrer Literatur hingegen scheinbar kleine Heldinnen zum Strahlen. Und das ist ein anderes Strahlen als das des Smartphone-Bildschirms, den ihre Heldin Fuyuko irgendwann bewusst in ihrer Schreibtischschublade einschließt.

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Kristine Harthauer