Walle Sayer: Mitbringsel, Gedichte (Foto: Klöpfer, Narr Verlag)

Buch der Woche

Walle Sayer - Mitbringsel

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AUTOR/IN
Michael Braun

Der Dichter Walle Sayer braucht nur wenige Wörter, um in das Zentrum unserer Existenz zu gelangen. Er gehört zur rar gewordenen Zunft der Poeten, die das Weglassen dem Ausschmücken vorziehen.

Und dabei bewahrt er sich die zentrale Eigenschaft, die für das Schreiben von Gedichten unerlässlich ist: die Fähigkeit zum Staunen, jenen innigen Blick auf die Dinge, der unser Alltagsuniversum so ausleuchtet, als sähe man all diese Gegenstände zum ersten Mal.

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Walle Sayer findet den Stoff für seine Dichtung in der schwäbischen Provinz

Den Dichter Walle Sayer muss man sich als einen Mystiker des Alltags vorstellen. 1960 in Bierlingen im Kreis Tübingen geboren, hat er den Stoff seiner Existenz-Dichtung in der Provinz gefunden.

Seit 1992 lebt er als freier Autor und Aushilfskellner in Horb am Neckar, wo er eine Poetik der nahen Dinge und der Alltäglichkeit entwickelt, die ihn als einen Solitär innerhalb der an Metropolenerfahrungen orientierten Gegenwartspoesie erscheinen lässt.

Autor Walle Sayer (Foto: Pressestelle, Burkhard Riegels-Winsauer)
Autor Walle Sayer

Sayer schmückt nicht aus, er lässt bewusst weg

Für seine Kunst der präzisen Weltbeobachtung ist Sayer mehrfach mit bedeutenden Lyrikpreisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Basler Lyrik-Preis 2017 und dem Gerlinger Lyrik-Preis 2018.

Einer seiner kundigsten Leser, der Journalist Benedikt Erenz, hat ihn einmal als versierten "Vergänglichkeitskenner" und "Schattenkundler" bezeichnet. Auch in seinem neuen Gedichtband "Mitbringsel" führt uns Walle Sayer in jene Erfahrungszonen, in denen die Begrenzungen unseres Lebens sichtbar werden.

Der Dichter Walle Sayer braucht nur wenige Wörter, um in das Zentrum unserer Existenz zu gelangen. Er gehört zur rar gewordenen Zunft der Poeten, die das Weglassen dem Ausschmücken vorziehen. Das Stenogramm ist ihm näher als die vokabuläre Ausschweifung.

Ein Autor, der gleichermaßen auch konzentrierter Beobachter ist

Mit ganz wenigen Strichen kann er ein ganzes Weltgebäude skizzieren. Und dabei bewahrt er sich die zentrale Eigenschaft, die für das Schreiben von Gedichten unerlässlich ist: die Fähigkeit zum Staunen, jenen innigen Blick auf die Dinge, der unser Alltagsuniversum so ausleuchtet, als sähe man all diese Gegenstände zum ersten Mal.

Seit 1984 hat Walle Sayer neun Gedichtbände vorgelegt und er ist sich dabei in seiner Eigenart als ein konzentrierter Beobachter des unspektakulären Details treu geblieben.

Gegenstände und Landschaften strahlen in Sayers Gedichtbänden

In der Rezeption seines Werks hat man mitunter etwas unbedacht auf den schwäbischen Hintergrund seines literarischen Kosmos hingewiesen, als sei in der Tatsache, dass Sayer seit vielen Jahren als Dichter und Aushilfskellner in Horb am Neckar lebt, irgendeine Wahrheit über sein Schreiben verborgen.

Was jedoch einzig zählt, ist seine Fähigkeit, die von ihm beobachteten Gegenstände und Landschaften in seinen Versen so ins Licht zu rücken, dass sie von sich aus zu strahlen beginnen.

Der Titel des Bandes ist an Paul Celan angelehnt

Sein neuer Band annonciert bereits im Titel eine Geste der Selbstbescheidung: Denn "Mitbringsel" sind ja ursprünglich kleine Geschenke, mit denen man von kleinen und großen Reisen in die eigene Lebenswelt zurückkehrt, um die Daheimgebliebenen mit einer Aufmerksamkeit zu erfreuen.

Wer nun Gedichte "Mitbringsel" nennt, der vollzieht einen Akt der Profanierung. Man darf diese Bezeichnung als ein spätes Ernüchterungs-Echo auf eine Definition des Dichters Paul Celan lesen.

Denn Celan hat Gedichte einmal als "Geschenke an die Aufmerksamen" bezeichnet. Walle Sayer vermeidet dagegen jeden Erhabenheits-Ton und vertraut in seinen "Mitbringseln" lieber auf das lakonische Notat.

Alltägliches wird gepaart mit Schicksalsaugenblicken

In acht Kapiteln versammelt der Dichter mikroskopische Erkundungen einer alltäglichen Lebenswelt, in der plötzlich kleine Offenbarungen und elementare Schicksalsaugenblicke aufblitzen.

Und besonders im fünften Kapitel, das seinem verstorbenen Vater gewidmet ist, hat Sayer auch intensive Erfahrungen der Vergänglichkeit eingraviert. So auch in den sechs Zeilen des Gedichts "Die Unterschrift auf der Generalvollmacht", das Erinnerungsfragmente und Momente des zerfließenden Lebens festhält: 

Die Unterschrift auf der Generalvollmacht
Auf dieser Schlangenlinie unterschrieben.
Die Kinderschrift eines Achtzigjährigen.
Namenszittern, bevor alles verweht wird.
Luftbläschen aus einem Fahrradschlauch.
Weinranken an der abgestützten Hauswand.
Am Feldrain ein verlorener Handschuh.

Sayer knüpft seine Verse in einer konsequent durchgehaltenen Widerspruchsstruktur

Über die Bewegungsform seiner Gedichte sagt Walle Sayer an einer Stelle, sie seien "allem Diametralen entgegengesetzt". Da klingt schon an, was er in großer Virtuosität in diesem Gedichtband zelebriert: die paradoxe Versfigur, das aphoristisch zugespitzte Notat, die verschärfte Contradictio in adjecto, den fortdauernden inneren Widerspruch.

Diese konsequent durchgehaltene Widerspruchs-Struktur bestimmt oft ganze Gedichte, wobei sich gelegentlich eine feine Komik einstellt.

Ein Vierling
Punktrichter werden von einem Mückensirren abgelenkt.
Der Klippenspringer steht an einer Bordsteinkante.
Der Simultandolmetscher schlägt im Wörterbuch nach.
Ein Tagdieb verschenkt seine Beute.

Gedichte als Widerstand gegen die Ausführlichkeit

In einigen Gedichten radikalisiert Sayer die Strenge gegen sich selbst und das Misstrauen gegen jede Ausführlichkeit. Dann kommt es zu extrem reduzierten Versen, in denen das Kleine gegen das Große gesetzt wird und aus diesen Gegensatz-Paarungen ästhetische Funken schlagen.

Das Gedicht "Schiedsspruch" führt eine solche Konfrontation der Gegensätze auf dem kleinen Raum eines Vierzeilers vor.

Schiedsspruch
Bachforelle, Meeresrauschen.
Das Totholz: voller Leben.
Eckig der Gesprächskreis.
Ein Hostienradius.

Ein Dichter, dem die Selbsterhöhung fern liegt

In seinem Widerstand gegen die Ausführlichkeit reiht Sayer an einigen Stellen nur noch einzelne, versprengte Wörter hintereinander, wenn er etwa eine "Liste des vom Lektor Gestrichenen" in ein Gedicht einfügt.

Selbsterhöhung ist diesem Dichter fern, ihn interessiert stattdessen unser Wenigerwerden im Alter. So entstehen poetisch dichte Kassiber der Vergänglichkeit:

Der Narr erteilt den Schlußsegen
Gehet hin.
Und teilt den Wald durch seine Bäume.
Sucht eine Wüste, um etwas hineinzurufen.
Einen Küstenabschnitt, um zu schweigen.
Fernhier, wo. Auf den Punkt zu, da.
Brosamen, Samen, Amen.

Mit seiner Kunst der lakonischen Fügung des scheinbar Nebensächlichen und der beiläufigen Abbreviatur hat Walle Sayer in seinem neuen Band "Mitbringsel" eine gelassene Meisterschaft erreicht.

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Michael Braun