Buch der Woche

Sophie Calle - Das Adressbuch

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AUTOR/IN
Wolfgang Schneider

Voyeurismus in analogen Zeiten: Als Sophie Calle Anfang der 1980er Jahre in Paris das Adressbuch von Pierre D. fand, rief sie seine darin verzeichneten Bekannten an.

Sie wollte mehr über den Besitzer des Adressbuches wissen, ohne ihn aber selbst zu treffen. Ihre Recherchen beschrieb sie anschließend in Kolumnen für die Tageszeitung „Libération“. Diese Texte wurden ein großer Skandal und liegen daher erst jetzt erstmals auf Deutsch vor.

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Alles begann mit dem Fund eines Notizbuchs

1983 fand Sophie Calle das Notizbuch eines Mannes, mit hunderten Namen, Adressen, Telefonnummern und knappen Aufzeichnungen: Koordinaten eines fremden Lebens.

Bevor sie das Adressbuch kommentarlos an den Eigentümer Pierre D. zurückschickte, kopierte sie es. Dann rief sie viele der Menschen an, deren Nummern darin verzeichnet waren.

Fotokünstlerin Sophie Calle (FRA) vor einem ihrer Werke (Foto: IMAGO, imago images / Uwe Steinert)
Autorin Sophie Calle

Freunde und Bekannte zeichnen ein Bild von Pierre D.

Wenn sie dazu bereit waren, machte sie Treffen mit den Freunden und Bekannten von Pierre D. aus. Wie eine Detektivin sammelte sie Informationen über ihn, um ein Bild des Fremden zu entwickeln und immer weiter zu vervollständigen.

Und es sollte keine private Neugier bleiben. Sophie Calle verfasste über Pierre D. achtundzwanzig Kolumnen für die vielgelesene Tageszeitung Libération, die – mit zahlreichen Schwarzweißfotos versehen – das vorliegende Buch ergeben.

Das Bild des Mannes wird immer schärfer

Aus anfangs vagen Umrissen entsteht dabei ein immer detailschärferes Bild des Mannes. Pierre D. ist ein Intellektueller von Anfang dreißig, ein Filmkenner und Kritiker, der in seinen Kreisen für seine Expertise geschätzt wird, aber mit seinen eigenen Drehbüchern und Kurzfilmen wenig Erfolg gehabt hat.

Inzwischen unterrichtet er an einer Filmhochschule. Auch sein Charakter zeichnet sich immer deutlicher ab: Pierre D. ist ein kommunikativer Einzelgänger, ein leicht verschrobener, verträumter, aber gerade wegen seiner intelligent clownesken Art beliebter Mann – ein Geschichtenerzähler, ein Philosoph.

Die Meinungen über Pierre D. gehen auseinander

Er ist sehr witzig, ein Verführer. Wenn ihm eine Frau gefällt, zeigt er sein Verlangen deutlich. Und mit einem Mal zieht er sich aus dem Spiel der Verführung zurück.

So teilt es eine gewisse Claire T. mit; in den Auskünften eines anderen Freundes wirkt diese Erotomanie allerdings weniger souverän:

Die Liebe ist für ihn ein aussichtsloses Unterfangen. Er verliebt sich systematisch, allerdings nur unter der Bedingung, dass er nicht die geringste Chance hat.

Ein chaotischer, wenig zuverlässiger Single

Es gibt immerhin 150 Frauennamen im Adressbuch. Pierre D. aber wohnt allein in einer unaufgeräumten Pariser Wohnung, vollgestopft mit Büchern und Papierkram.

Er liebt Comics, Slapstick und Science-Fiction; weniger Sinn hat er offenbar für Pflanzen. Jedenfalls bezeichnet ihn ein italienischer Freund als "Pflanzenkiller".

Er habe Pierre D. für einen Rom-Aufenthalt seine Wohnung überlassen und der habe das Gießen in der Sommerhitze schlicht vergessen:

Um ihn herum die schwarzen, verbrannten Pflanzen. Er hatte nichts bemerkt. Wegen dieses Genozids überlasse ich ihm nie wieder mein Haus. Mein Vertrauen in ihn reicht nicht mehr aus, um ihn mit lebenden Geschöpfen allein zu lassen.

Trotz des nüchternen Stils entsteht der Eindruck literarischer Verdichtung

In nüchternen, protokollierenden Sätzen präsentiert Calle in ihren Kolumnen, was sie über Pierre D. erfährt – viel Gutes, manch Skurriles, aber auch weniger Schmeichelhaftes.

Allerdings hat man bald den Eindruck einer gewissen literarischen Stilisierung und Verdichtung, was durch die Fotos der Buchfassung noch verstärkt wird.

Sie greifen Motive der Texte auf, entrücken sie durch ihre artifizielle Schwarz-Weiß-Ästhetik aber ins Unpersönliche, Unverbindliche.

Zwischen Calle und Pierre D. herrschte ein unterkühltes Verhältnis

Calle war das Objekt ihres Voyeurismus von Anfang an sympathisch.

Sie hatte das Gefühl, mit Pierre D. vertraut zu werden wie mit einem Freund und imaginierte sogar die Möglichkeit einer "Liebesgeschichte".

Er dagegen reagierte bestürzt und beschämt, als er von einem längeren Aufenthalt in Lappland zurückkehrte und von seiner Öffentlichkeitswirksamkeit erfuhr.

Gegenüber Calle war er schroff abweisend. Er forderte von "Libération" eine Seite zur Gegendarstellung und ließ dort ein Nacktfoto der Künstlerin abdrucken, das sie im Rahmen eines ihrer Projekte längst selbst veröffentlicht hatte.

Zu Lebzeiten Pierre D.s war die Publikation des Adressbuchs verboten

Eine also eher hilflose Form der Rache. Zu Pierre D.s Lebzeiten durfte "Das Adressbuch" nicht mehr publiziert werden. Er starb 2005, gerade einmal 57 Jahre alt.

Viele Aspekte des Projekts, das in den achtziger Jahren einen handfesten Skandal auslöste, bestimmen auch aktuelle Debatten, insbesondere die Verflüchtigung der Privatsphäre und der Datenklau, für den heute allerdings nicht Künstler, sondern Hacker und vor allem die großen Internetkonzerne mit ihrer algorithmischen Vermessung des Menschen verantwortlich sind.

War das „Adressbuch“ die Vorwegnahme der sozialen Medien?

In der heutigen Diskussion um das Adressbuch wird allerdings auch behauptet, dass die Transparenz, die Pierre D. noch als rücksichtloses Eindringen in seine Privatsphäre empfand, durch die sozialen Medien alltäglich geworden sei.

Inzwischen trügen die Menschen ihr Privatleben doch selbst in die digitale Öffentlichkeit.

Dieser Vergleich hinkt jedoch. Wer sich heute in den sozialen Medien selbst darstellt, dem ist es um ein attraktives Porträt seiner selbst zu tun. In Calles Projekt aber geht es um intime Äußerungen und Urteile über einen anderen Menschen.

Es geht nicht um die Inszenierung des eigenen Lebens

Mit seinen schwarzen Hosen und weißen Hemden sieht er aus wie ein Pinguin. Wie eine Figur aus einem Kinderbuch. Gutgläubig und gleichzeitig gebildet. Er ist der Typ Mensch, der sogar von einem Computer vergessen werden würde.

So äußerte sich eine gewisse Marianne B. über Pierre D. Wer möchte solche Sätze über sich in der Zeitung oder in den sozialen Medien lesen? Eine andere Freundin meint:

Er ist ein hilfloser Kerl, der damit gut zurechtkommt. Er hat ganz eigene Sauerstoffquellen.

Kurz: Hier geht es um etwas anderes als die Inszenierung des eigenen Lebens. Deshalb lässt sich Pierre D.s Ärger heute genauso gut verstehen wie vor vierzig Jahren.

Heute wäre ein solches Projekt schier unmöglich

Tatsächlich sind wir seitdem eher noch empfindlicher geworden. Gerichtsurteile über Romane, die ungebeten die Privatsphäre von realen Menschen ausstellen, belegen es.

Und wohl auch der Umstand, dass Sophie Calle heute keine große Tageszeitung mehr fände, die mit ihr beim künstlerischen Stalking kollaborieren würde.

Insofern ist das Projekt historisch geworden. Gerade deshalb erscheint dieses Buch aber auch als Kostbarkeit: Es ist ein kleines Meisterwerk der Indiskretion.

Was früher Skandal war, ist heute ein Zeitdokument

Pierre D. erweist sich darin nicht nur als Fliege im Spinnennetz, sondern auch als erstaunlich archetypischer Franzose sowie als Repräsentant seiner Generation, der Achtundsechziger.

"Das Adressbuch" ist ein Experiment der literarischen Menschenkunde, das mit dem Abstand der Jahre an Reiz gewonnen hat.

Damals war es ein Skandal, heute ist es eine berührende Charakterstudie.

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Wolfgang Schneider