Patrick Modiano - Unsichtbare Tinte (Foto: Pressestelle, Hanser Verlag / Copyright: Portrait Photo Catherine Hélie / (c) Éditions Gallimard)

Buch der Woche

Patrick Modiano – Unsichtbare Tinte

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AUTOR/IN
Kathrin Hondl

Mit seinem 29. Roman erweist sich der französische Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano einmal mehr als großer Erinnerungskünstler. Und es scheint tatsächlich so zu sein, wie es der Autor immer wieder gesagt hat: Er habe den Eindruck, „immer ein bisschen dasselbe Buch zu schreiben.“

Wer also schon einmal einen Modiano gelesen hat, wird mit dem neuen manche „Déja vu“-Momente erleben. Wie bei zufälligen Begegnungen mit alten Bekannten. 

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In „Unsichtbare Tinte“ geht um die zerbrechliche Beziehung zwischen Schreiben und Vergessen, um Erinnerungsströme, die Erzählungen und Existenzen schaffen und eine spannende Detektivgeschichte, hinter der sich eine Suche nach Identität verbirgt.

Im Roman dreht sich alles um Ströme von Erinnerungen

Jean Eyben, der Erzähler, arbeitete als junger Mann eine gewisse Zeit lang für einen Privatdetektiv. Von einem Auftrag hat er, ohne zu wissen oder zu verstehen warum, das „Dossier“ behalten:

Ein schlichtes Karteiblatt in einer himmelblauen Mappe, ausgebleicht mit der Zeit. Fast schon weiß, auch dieses einstige Himmelblau. Und das Wort „Dossier“ steht mitten auf der Mappe geschrieben. In schwarzer Tinte.

Schwarz auf Weiß also. Oder fast. Es geht um das Schreiben in diesem Roman und um die zerbrechliche Beziehung zwischen Schreiben und Vergessen; Erinnerungsströme, die Erzählungen und Existenzen schaffen.

Jean Eyben sucht in Paris nach einer verschwundenen Frau

Der Fall, den Jean Eyben als 20-jähriger im Detektivbüro bearbeitete, betraf das Verschwinden einer Frau. Noelle Lefebvre hieß sie. Vielleicht aber war das gar nicht ihr richtiger Name. Der Erzähler scheint da so eine Ahnung zu haben.

Jedenfalls schickte ihn sein Chef, ein gewisser Hutte, zu Ermittlungen „vor Ort“, ins 15. Pariser Arrondissement. Es war eine Zeit, in der man sich „postlagernd“ Briefe schickte.

Von der verschwundenen Noelle Lefebvre existiert noch eine „Berechtigungskarte“ zum gebührenfreien Empfang von Briefsendungen - mit Adresse und einem zu dunklen Foto.

Modiano ist ein Meister der Erinnerungskunst

Jean Eyben erinnert sich, wie er damals, im Paris der 60er Jahre nach Informationen über die verschwundene Noelle Lefebvre suchte. Auf der Post, im Café und bei der Concierge des Mietshauses im 15. Arrondissement, im Lederwarengeschäft Lancel an der Garnier-Oper und in einem Tanzlokal am Quai de Grenelle. 

Es ist, wie so oft in den Romanen dieses Autors, eine Suche nach der verlorenen Zeit. Modiano sei ein „Marcel Proust unserer Zeit“, meinte die Schwedische Akademie über den Literaturnobelpreisträger von 2014. Und doch ist Modianos Erinnerungskunst eine ganz andere.

Der Roman spielt in einer surrealen Pariser Zwischenwelt der Erinnerungen

In Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ tauchen Erinnerungen plötzlich auf, ausgelöst durch ganz bestimmte Wahrnehmungen, wie den berühmten Geschmack einer Madeleine.

Bei Modiano aber ist das Erinnern eine kontinuierliche Bewegung – über Orts- und Straßennamen, Metrostationen oder eben ein ausgebleichtes „Dossier“ drängt die Vergangenheit permanent in die Gegenwart.

Autor Patrick Modiano (Foto: Pressestelle, Photo Catherine Hélie / (c) Éditions Gallimard)
Autor Patrick Modiano

Sie erscheint - ähnlich wie der mit unsichtbarer Tinte geschriebene Text in dem Notizbuch, das Jean Eyben in der leeren Wohnung von Noelle Lefebvre fand. Und wir Leser*innen tauchen ein in eine diffuse, manchmal fast schon surreale aber nie nostalgische Pariser Zwischenwelt der Erinnerungen. 

Für den Protagonisten ist es eine Identitätssuche

Zeitebenen verschieben sich permanent im Flow des Erinnerns und des Schreibens:

Nachdem ich mich an meinen Friseurbesuch in der Rue des Mathurins erinnert habe und an Mourades Foto im Kinojahrbuch, merke ich, dass ich tatsächlich so etwas hatte wie eine Gedächtnislücke. Weiter oben habe ich geschrieben, zehn Jahre wären verstrichen seit jenem Nachmittag im Frühling, als Hutte mich losgeschickt hatte, „vor Ort“, auf die Suche nach Noelle Lefebvre. Und so erweckte ich den Eindruck, während dieser zehn Jahre hätte ich nicht mehr an die kurze Episode in meinem Leben gedacht, und all die seit zehn Jahren gemachten Bekanntschaften und die verschiedenen erlebten Dinge hätten jenen Nachmittag im 15. Arrondissement zugedeckt mit einer Schicht des Vergessens. Nein. Von jetzt an muss ich versuchen, mich soweit irgend möglich an die chronologische Reihenfolge zu halten, sonst verliere ich mich in jenen Zonen, wo Erinnerung und Vergessen durcheinandergeraten.

 „Unsichtbare Tinte“ erzählt im Grunde eine Identitätssuche, verborgen hinter Erinnerungen an einen Studentenjob im Detektivbüro.

„Unsichtbare Tinte“ ist eine verblüffende Detektivgeschichte

Und tatsächlich lichtet sich am Ende dieses wunderbaren Romans wie durch Magie der Nebel über den Erinnerungsschichten der Vergangenheit. Oder liegt es am überraschenden Wechsel der Perspektive, als aus dem „ich“ des Erzählers plötzlich eine „sie“ wird?

Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich in einer Art Transparenz, und jeder Augenblick, den ich in meiner Jugend erlebt habe, erscheint mir, losgelöst von allem, in einer ewigen Gegenwart.

Mehr soll hier nicht verraten werden, schließlich ist „Unsichtbare Tinte“ auch eine verblüffende Detektivgeschichte, die man gebannt und in einem Rutsch verschlingt.

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AUTOR/IN
Kathrin Hondl