Buchkritik

Franziska Thun-Hohenstein – Das Leben schreiben | Warlam Schalamow – Ich kann keine Briefe schreiben

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AUTOR/IN
Gisela Erbslöh

Nach vierzehn Jahren in den schlimmsten Zwangs- und Arbeitslagern der Stalinzeit fand der russische Dichter Warlam Schalamow den Zugang zur Sprache wieder – für ihn selbst ein Wunder. Seine langjährige deutsche Herausgeberin Franziska Thun-Hohenstein hat nun eine Auswahl seines Briefwechsels ediert und eine beeindruckende Biographie über den großen Autor geschrieben.

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1949 in den Arbeits- und Vernichtungslagern am sibirischen Fluss Kolyma. Seit elf Jahren ist der Dichter Warlam Schalamow hier, an einem der kältesten Orte der Erde. Lange konnte er nicht mehr schreiben, nun aber kehrt endlich die Dichtung zu ihm zurück. Vergessene Worte, Reime, ganze Zeilen fluten sein Gehirn, Gedichte stürzen aus ihm heraus wie ein tödliches Erbrechen.

So hat es der Autor später notiert, und so zitiert ihn Franziska Thun-Hohenstein in ihrer beeindruckenden Schalamow-Biographie mit dem Titel „Das Leben schreiben“. Ebenfalls liegt jetzt sein von ihr herausgegebener Briefwechsel aus den Jahren nach seiner Haft vor. „Ich kann keine Briefe schreiben…“ heißt der Band, denn das behauptete Schalamow mehrfach, tat es aber doch und hinterließ mit ihnen äußerst lebendige Zeugnisse seines Denkens, Schreibens und, seltener, auch seines Alltags.

Parallel zu seiner Lebensgeschichte behandelt die Biographin Schalamows intensive Auseinandersetzung mit der Frage: Wie kann man über das, was an der Kolyma geschah, schreiben, und was muss man schreiben? Davon handeln auch viele der Briefe. In beiden Büchern geht es daher auch um den Urheber seiner Leiden, den immer wieder verdrängten und verschwiegenen sowjet-russischen Staatsterror und seine gesellschaftlichen Folgen.

Warlam Schalamow lebte in einer Zeit russischer Geschichte, in der sich kaum jemand der bedrohlichen Macht der Politik zu entziehen vermochte. (…) Krieg, Revolution, Hunger, Terror und Gewalt – hinterließen tiefe Risse in der russischen Gesellschaft. (…) Jahrzehnte lang lebten die Menschen (…) zwischen ständiger Angst, öffentlich propagierter (auch ersehnter) kommunistischer Utopie und inszeniertem Jubel über fiktive, aber auch erzielte Erfolge. (…) Die Zerrissenheit der Zeit erlebte Schalamow derart intensiv, dass er den Bruch zu seiner Leitmetapher machte. (S. 14 / 235)

Den entscheidenden Bruch seines Lebens erlebt er bereits mit 22. Er ist begeistert von der Revolution, schließt sich aber in Moskau der linken studentischen Opposition gegen Stalin an und wird 1929 zu drei Jahren Straflager verurteilt. 1937 folgt die zweite Verhaftung und seine Verschickung an die Kolyma am äußersten Rand von Sibirien. Bei der Rückkehr nach Moskau in den frühen fünfziger Jahren wird er nahezu zwanzig Jahre seines Lebens in sogenannten Arbeits- und Besserungslagern und in der Verbannung verbracht haben. Er überlebt nur knapp und begreift es als Wunder, dass die Fähigkeit, sich zu erinnern und sogar zu dichten zu ihm zurückkehrt.

Doch auch nach Stalins Tod 1953 dürfen offiziell nur ganz wenige seiner Werke gedruckt werden – und auch die nur zensiert und verstümmelt. Er stirbt 1982 - taub, blind und schwer krank. Als Autor ist er lediglich in Dissidentenkreisen bekannt. Heute hingegen gilt Warlam Schalamow als der wichtigste russische Autor, der über den Gulag schrieb. In Deutschland erscheinen seine Werke seit 2008, in der glänzenden Übersetzung von Gabriele Leupold und herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein. Schalamows Erinnerungen und sein Hauptwerk, die „Erzählungen aus Kolyma“ liegen also schon vor. Sie geben in einer Mischung aus Fiktion und harten Fakten, kommentar- und trost-los, wieder, was er selbst erlebte. In einem Brief schreibt er:

Jede meiner Erzählungen ist eine schallende Ohrfeige für den Stalinismus. (…) Hier sind Menschen in einem extrem wichtigen, noch nicht beschriebenen Zustand gezeigt, der schon einer Verfassung jenseits des Menschlichen nahekommt. Meine Prosa ist die Fixierung jenes Wenigen, das im Menschen noch blieb. (…) Und gibt es eine Begrenzung für dieses wenige, oder steht hinter dieser Begrenzung der Tod, geistig und physisch?

Aus Thun-Hohensteins Biographie ergibt sich nun das komplexe Porträt eines Mannes, den der sowjetische Staat der Vernichtung preisgab und der sich doch nie ganz von der sowjetischen Revolution distanzierte.

Als er im Gulag war, verbrannten seine Angehörigen die Spuren seines vorherigen Lebens – Dokumente, Fotos, Notizen, literarische Entwürfe und Briefe. Aus Angst vor dem Staatsterror. Die Quellenlage war für seine Biographin also schwierig. Klar, da sind natürlich seine literarischen Texte:

Wenn wir Gedichte, Prosawerke, Briefe und Selbstaussagen Schalamows lesen, haben wir es demnach mit Texten zu tun, denen das Wissen um das an der Kolyma Erlebte auch dann eingeschrieben ist, wenn es unausgesprochen bleibt. Er sah sich als Mann aus der Hölle. (23)

Trotzdem kann man diese Erzählungen nicht streng autobiographisch lesen. Zudem hat er ganz persönliche Erinnerungen hinterlassen, die jedoch bis zu zwanzig Jahre nach der Lagerhaft an der Kolyma entstanden waren. Entsprechend kritisch geht Thun-Hohenstein mit diesem Material um. Am verlässlichsten ist sicherlich sein Briefwechsel. Dieser setzt 1952, gleich nach Aufhebung der Haft in Russlands Fernem Osten ein. Mit Größen wie dem Dichter Pasternak, Nadezhda Mandelstam und Alexander Solschenizyn. Berührend ist seine zuweilen zärtliche Korrespondenz mit seiner letzten Geliebten, die er später zur Erbin seines Nachlasses macht; erschütternd seine Berichte an den einzigen wirklich nahen Freund über seinen schweren Moskauer Alltag. Aber da ist noch ein anderer Schalamow – schroff, überheblich, verletzend - vor allem Autoren gegenüber, die ebenfalls über den Gulag schreiben. Früher oder später brechen fast alle mit ihm.

Der 700-Seiten-Briefwechsel, die 500-Seiten-Biographie – beide nähern sich aus verschiedenen Perspektiven einem enorm aufnahmefähigen, belesenen, wissbegierigen Menschen, der sich in sich verkapseln musste, um das Unerträgliche ertragen zu können – bis ihn der endgültige Verfall einholte. Für die schnelle Lektüre eignet sich keines der Bücher. Allein die Detailfülle, mit der die Biographie Schalamows Leben und Schreiben nachgeht, ist gelegentlich verwirrend. Das Resultat ist dennoch ein überwältigend differenziertes Porträt dieses großen Autors. In einem seiner allerletzten Briefe konstatiert er selbstbewusst:

Dieser Schlund – der Auschwitz wie die Kolyma (einschließt) - ist die Erfahrung des 20. Jahrhunderts, und ich habe die Kräfte, diese Erfahrung zu beglaubigen und zu zeigen. (Br 623)

Dieser Schlund hat Schalamow ganz nach unten gerissen. Auch er war, vermutete er selbst, unter „Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen“ zur Bestie geworden. Indem seine Sprache zu ihm zurückkehrte, konnte er nachher exemplarisch in Worte fassen, was zahllose andere nicht überlebten.

Franziska Thun-Hohenstein – Das Leben schreiben. Warlam Schalamow. Biographie und Poetik
Matthes & Seitz Verlag, 536 Seiten, 38 Euro
ISBN 978-3-95757-037-6

Warlam Schalamow – Ich kann keine Briefe schreiben. Briefwechsel 1952 - 1978
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Herausgegeben, mit einem Anmerkungsteil und einem Nachwort versehen von Franziska Thun-Hohenstein
Matthes & Seitz Verlag, 751 Seiten, 48 Euro
ISBN 978-3-7518-0075-4

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Gisela Erbslöh