Buchcover Chaim Grande: Von Frauen und Rabbinern

Buch der Woche

Chaim Grade - Von Frauen und Rabbinern. Zwei Erzählungen

Stand
Autor/in
Christoph Schmälzle

Fromm, aber nicht einfältig: Das sind die Figuren von Chaim Grade. Jetzt sind zwei Erzählungen des jiddischen Autors erschienen, die zur zarten Renaissance der jiddischen Literatur auf dem deutschen Buchmarkt zählen.

Sie führen in die jüdischen Gemeinschaften, die es vor dem Zweiten Weltkrieg in Litauen und in Polen noch gab. In seinen Erzählungen zeigt sich Chaim Grade als Stilist der allerfeinsten Sorte. Wer ihn nicht gelesen hat, hat etwas verpasst!

Grade entführt den Leser mit seinen frommen Figuren in die verlorene Welt des Ostjudentums

Chaim Grade ist einer der ganz Großen der jiddischen Literatur. Noch in den 1970er-Jahren schuf er in New York bildmächtige, traditionsgesättigte Geschichten, die uns in die verlorene Welt des Ostjudentums entführen.

Seine Figuren sind fromm, aber nicht einfältig. Das zeigen gerade die beiden Erzählungen, die Susanne Klingenstein für die „Andere Bibliothek“ übersetzt und kommentiert hat. Sie erlauben uns eine Innensicht des orthodoxen Judentums in Polen und Litauen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.

Jiddische Literatur versucht ein Bild der ostjüdischen Lebenswelten zu geben

Wer weiß heute noch, wie erbittert in den Synagogen von Warschau, Lemberg oder Wilna über die Vereinbarkeit von Zionismus und Orthodoxie gestritten wurde?

Der unfassbare Schrecken der Shoa verdeckt die einstige Vielfalt ostjüdischer Lebenswelten. Jiddische Literatur aber kann den Nachgeborenen davon ein Bild geben. Durch neue Übersetzungen wird dieser versunkene Kontinent zunehmend sichtbar.

Der ambitioniert gestaltete Band trägt den sprechenden Titel „Von Frauen und Rabbinern“. Er zählt zum Spätwerk Chaim Grades, der 1910 in Wilna, dem „Jerusalem des Nordens“, geboren wurde.

Im Fokus steht die Frage, welchen Beitrag Gelehrsamkeit zum Leben leistet

Obwohl die beiden Texte erst 1974 entstanden, sind sie frei von Nostalgie. Ganz im Gegenteil: Sie führen uns ohne jede historische Rahmung hinein in eine religiös und politisch hoch differenzierte Welt am Vorabend ihrer Zerstörung.

Grade schildert den Alltag der litauisch-polnischen Juden zwischen „Synagoge und Straße“ – so hieß der im Original noch umfangreichere Erzählband zunächst. Seine Geschichten kreisen um die Frage, welchen Beitrag die talmudische Gelehrsamkeit zur Bewältigung des Lebens leistet.

Denn nicht nur im Streitfall bewährt sich die Autorität eines Rabbiners. Die religiösen Vorschriften erfassen alle Lebensbereiche und regeln, was jeweils erlaubt und was verboten ist. Tragische Fehleinschätzungen sind dabei immer möglich und geben der Literatur ihren Stoff.

Die erste Erzählung kreist um ein dunkles Geheimnis

Das wird schon in der ersten der beiden Erzählungen deutlich: „Die Rebbezin“, das heißt: die Frau des Rabbiners. Auf den ersten Blick handelt der Text vom Schicksal des bescheidenen Rabbiners Uri-Zwi Königsberg.

Doch hinter ihm steht Perele, seine standesbewusste Frau. Selbst Tochter eines Rabbiners, hat sie ein dunkles Geheimnis, das an ihrer Seele nagt: Vor ihrer Heirat war sie schon einmal verlobt.

Die Protagonisten der Erzählungen stehen metaphorisch für die konkurrierenden Strömungen des Judentums

Aber ihr Bräutigam, der intellektuell brillante Mosche-Mordechai Eisenstadt, machte einen Rückzieher. In einem Alter, in dem Uri-Zwi sich zur Ruhe setzen will, baut Perele ihn zum Konkurrenten jenes Mannes auf, der sie einst verschmähte.

Grades Kunst zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er die Akteure dieser Tragödie zugleich als Typen zeichnet, die für konkurrierende Strömungen im Judentum stehen.

Die zweite Erzählung spielt in einer Mietskaserne

Die zweite Erzählung, „Lejbe Lejsers Hof“, spielt im Mikrokosmos einer Mietskaserne in Wilna mit eigenem Bet- und Lehrhaus.

Zu entscheiden, was verboten ist, mag im Einzelfall hart sein, kann jedoch größeres Unheil verhindern. Das ist die Lektion, die der Rabbiner Joel Weintraub lernen muss. Aufgrund einer traumatischen Erfahrung, die lange im Dunkeln bleibt, hat er dazu nicht das Herz.

Doch es ist seine Bestimmung als Religionsgelehrter, Orientierung zu geben und Streitfälle zu schlichten. Mit leichter Hand hält der Erzähler die Balance zwischen den Extremen, indem er das mutlose Laisser-faire ebenso kritisiert wie die Auswüchse allzu rigider Frömmigkeit.

Der Autor war selbst jahrelang als Rabbiner tätig

Problematische Beziehungen und menschliche Schwächen schildert Chaim Grade unterhaltsam und mit souveräner Sympathie für seine Figuren.

Dass seine männlichen Helden mit der Bürde des Rabbinats ringen, hat indes einen biographischen Hintergrund: Der Autor war fast ein Jahrzehnt als Rabbiner tätig, bevor er dieses Amt zugunsten der Literatur aufgab.

Grade unterläuft das Klischee vom rückständigen Schtetl

Als einer der führenden Köpfe der jiddischen Literatur nach 1945 schöpft Grade aus dem Fundus dieser Erfahrung. Er zeigt die Welt des Ostjudentums aus der Sicht gebildeter, städtisch sozialisierter Figuren und unterläuft so das Klischee vom rückständigen Schtetl.

Aus heutiger Sicht mag es unzeitgemäß wirken, dass Grade die Kritik an der Orthodoxie nicht bis zum Bruch zuspitzt wie zuletzt Deborah Feldman.

Dafür schreien seine dicht verwobenen Geschichten geradezu nach dem Serienformat, wie es Netflix mit der in Jerusalem angesiedelten Serie „Shtisel“ erfolgreich bedient.

Gespräch Angekommen! Jüdische Autor*innen schreiben in Deutschland

„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ – das wird dieses Jahr gefeiert. Denn ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321 belegt, dass damals bereits Jüdinnen und Juden in Köln lebten. Trotz der schweren Pogrome zu Beginn des Ersten Kreuzzugs (1096), während der Pest (1349) und auch trotz des noch immer unfassbaren Holocaust im 20. Jahrhundert leben bis heute Jüdinnen und Juden in Deutschland. In den letzten Jahrzehnten nimmt ihre Zahl sogar stark zu: durch den Zuzug osteuropäischer Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und auch weil Berlin bei Israelis besonders beliebt ist. Viele Autorinnen und Autoren sind darunter, und sie bereichern das literarische Leben in Deutschland. Der Kritiker Carsten Hueck kennt die Details.
Carsten Hueck freut sich auf den Roman „Schicksal“ von Zeruya Shalev, der Ende Mai im Berlin-Verlag erscheint, und empfiehlt:
Chaim Grade: „Von Frauen und Rabbinern“
Aus dem Jiddischen von Susanne Klingenstein, Die Andere Bibliothek, 44 Euro.
Tomer Gardi: „Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück“
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Droschl, 20 Euro.

SWR2 lesenswert Magazin SWR2

Gespräch Die Übersetzerin Susanne Klingenstein über die Renaissance der jiddischen Literatur

Jiddische Literatur war bei uns lange vergessen. Im Holocaust starben nicht nur Millionen Menschen, sondern auch weite Teile einer alten Kultur. Jetzt aber erlebt die jiddische Literatur in Deutschland eine zarte Renaissance. Meisterwerke des 19. und 20. Jahrhunderts werden erstmals übersetzt.
Sehr aktiv ist die Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein. Sie hat Scholem Jankew Abramowitsch und Chaim Grade ins Deutsche übersetzt. Inzwischen arbeitet sie an einer Kulturgeschichte der jiddischen Literatur. Susanne Klingenstein ist aus Boston zum Gespräch zugeschaltet.
Die Liste der besprochenen Bücher:
* Susanne Klingenstein: „Mendele der Buchhändler“, Harrassowitz.
* Scholem Jankew Abramowitsch: „Die Reisen Benjamins des Dritten“. Übersetzt von Susanne Klingenstein. Hanser.
* Chaim Grade: „Von Frauen und Rabbinern“. Übersetzt von Susanne Klingenstein. Die Andere Bibliothek.
Diese beiden Romane empfiehlt Susanne Klingenstein zur Lektüre:
Der Nister: „Die Brüder Maschber“. Übersetzt von Hans-Joachim Maass. Propyläen & Zweitausendeins. (Nur noch antiquarisch erhältlich)
Moische Kulbak: „Die Selmenianer“. Übersetzt von Esther Alexander-Ihme und Niki Graça. Die Andere Bibliothek.

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Christoph Schmälzle