Der Schädel dröhnt und doch schleppen wir uns oft wider besseren Wissens zur Arbeit. Der Präsentismus ist weit verbreitet, auch in Rheinland-Pfalz. (Foto: Getty Images, fizkes)

Corona, Grippe, Norovirus in Sichtweite

Warum krank zur Arbeit gehen nicht die Lösung ist

Stand
INTERVIEW
Andrea Lohmann

Bald ziehen Grippe, Norovirus und andere Fieslinge durchs Land. Psychotherapeutin Isabella Helmreich erklärt im Interview, warum wir uns immer noch krank zur Arbeit schleppen - und wie wir damit aufhören können.

SWR Aktuell: Wer kennt das nicht: Wir ärgern uns im Büro über Kollegen, die mit Rotznase arbeiten kommen - und machen es bei der nächsten Erkältung nicht anders. Wider besseren Wissens. Was ist da im Kopf falsch verschaltet?

Isabella Helmreich: Das ist individuell ganz unterschiedlich, was für Motive wir haben, wenn wir krank zur Arbeit gehen. Es gibt Menschen, die haben ein ganz hohes Leistungsmotiv, die sagen: Ich muss Leistung zeigen, ich kann nicht krank sein, ich darf keine Schwäche zeigen. Dann gibt es andere, die haben eher ein soziales Motiv: Die sagen, ich kann meine Kollegen nicht im Stich lassen, ich muss die unterstützen, ich kann denen doch jetzt nicht noch meine Arbeit aufbürden. Wieder andere sind so perfektionistisch veranlagt, die sagen: Nur ich kann die Arbeit richtig machen, wenn das jemand anderes macht, das geht gar nicht, ich bin unersetzbar.

Dann gibt es natürlich auch den Fall, dass von Arbeitgeberseite Druck ausgeübt wird, auf jeden Fall zur Arbeit zu kommen. Das ist besonders in den Branchen mit hohem Personalmangel oft der Fall. Im Gesundheitswesen zum Beispiel müssen Patienten versorgt werden. Der Druck ist damit schon ohnehin höher als in anderen Bereichen. Man kann da ja auch kein Homeoffice machen. Und wenn Leute ausfallen, dann wird der Druck auf alle anderen noch größer. Da fühlen sich Menschen natürlich noch mehr verpflichtet zur Arbeit zu gehen oder werden manchmal unter Druck gesetzt zu kommen. Das ist ein gesellschaftliches Problem, bei dem man versuchen muss, an den Strukturen was zu verändern, damit dem Personalmangel entgegengewirkt wird.

SWR Aktuell: Das heißt aber doch in vielen Fälle: Ich schaue zwar darauf, dass es den Kollegen gut geht, aber mit meiner Selbstfürsorge ist es nicht so weit her?

Helmreich: Ja, wir wissen eigentlich alle, dass es keinen Sinn macht zu arbeiten, wenn wir wirklich krank sind. Dann macht man vermehrt Fehler und gefährdet sowohl die eigene als auch die Gesundheit der anderen.

Hier spielt eine gute Selbstfürsorge eine wichtige Rolle, also auf das eigene seelische und körperliche Wohlbefinden zu achten. Unser Körper sendet uns fortwährend Signale, wie es uns geht. Wichtig ist, auf ihn zu hören und wenn etwas nicht in Balance ist, das auch ernstzunehmen und entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen (z. B. regelmäßige Pausen machen, Ausgleich zur Arbeit schaffen durch z. B. Hobbies, sozial eingebunden sein). Eine Erkrankung ist immer ein Signal des Körper, dass er jetzt mal dran ist und Ruhe braucht, um sich wieder zu regenerieren.

SWR Aktuell: Krank zur Arbeit gehen - dieses Verhalten hat einen hoch offiziellen, wissenschaftlichen Namen: Präsentismus. Das hört sich gar nicht so negativ an, aber in Wirklichkeit ist das mit Gefahren und Risiken verbunden.

Helmreich: Auf jeden Fall, denn auf der einen Seite gefährde ich natürlich meine eigene Gesundheit. Wenn ich eine Krankheit nicht ausreichend auskuriere, dann kann sie sich schnell hinziehen oder im schlimmsten Fall kann ich mir wirklich auch Schaden zufügen - meinem Herzen zum Beispiel. Außerdem besteht die Gefahr, dass ich andere Menschen anstecke und dann im schlechtesten Fall eine größere Krankheitswelle auslöse. Durch die Pandemie ist jedoch auch das Bewusstsein für das Ansteckungsrisiko gestiegen und wir haben gelernt, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Auf der anderen Seite ist Präsentismus, also Anwesenheit bei der Arbeit, nur eine Grundvoraussetzung für Leistung. Studien haben ganz deutlich gezeigt, dass wir, wenn wir uns nicht wohl fühlen und richtig krank sind, unsere Aufmerksamkeit eingeschränkt ist, wir schneller ermüden, mehr Fehler machen oder unseren Kolleg:innen gegenüber aggressiver oder genervter auftreten - das zieht natürlich alles negative Konsequenzen nach sich.

Eine Erkrankung ist immer ein Signal des Körper, dass er jetzt mal dran ist und Ruhe braucht, um sich wieder zu regenerieren.

Wichtig ist es auch, mit solchen Mythen aufzuräumen, dass man krank gute Leistung erbringen kann: Besser ist es, sich zu sagen, die eigene Gesundheit ist ein sehr hohes Gut und sollte nicht leichtfertig riskiert werden. Sowohl Arbeitgeber:innen als auch ich selbst haben mehr davon, wenn ich eine Erkrankung ausreichend auskuriere und dann wieder erholt mit vollem Einsatz zurückkehren kann.

SWR Aktuell: Trotzdem zeigen aktuelle Studien, dass der Lerneffekt aus der Pandemie schnell verpufft ist. Die Menschen gehen wieder arbeiten, obwohl sie krank sind. Warum tun wir uns so schwer, uns selbst etwas Gutes zu tun?

Helmreich: Das hängt stark mit unseren menschlichen Grundbedürfnissen zusammen, wir wollen uns als selbstwirksam erleben, die Kontrolle über Dinge behalten, geliebt werden und unseren Selbstwert steigern. Eine Erkrankung nimmt uns die Kontrolle und zwingt uns inaktiv zu sein, das fällt vielen schwer. Zudem kommen noch die eigenen Motive dazu, also z. B. eine hohe Leistungsmotivation oder Verantwortungsbewusstsein oder Hilfsbereitschaft. Solche Motive können uns zusätzlich antreiben und uns von einer guten Selbstfürsorge abhalten.

SWR Aktuell: Wie reagiere ich am besten, wenn ein Triefnase mir gegenüber sitzt? Demonstrativ das Büro wechseln, einen Erkältungstee kochen oder bei der Chefin petzen?

Helmreich: Am besten ist es natürlich immer, miteinander zu sprechen. Also selber zu sagen, wie man sich damit fühlt, eigene Ängste auszusprechen oder auch vielleicht Sorgen, die man sich um die Person macht. Gut ist sicher auch aufzuzeigen, was die Vorteile wären, wenn die Person zuhause bliebe, um sich erstmal auszukurieren. Ein anderer Punkt ist, die Bedenken der kranken Person aufzugreifen - wenn diese also sagt, ich will Euch nicht mit der ganzen Arbeit alleine lassen. Da sollte man dann auch den guten Willen wertschätzen und gemeinsam nach einer Lösung suchen.

SWR Aktuell: Wie kann man sich die schlechte Angewohnheit abtrainieren, krank zur Arbeit zu gehen? Und wie lange dauert das?

Helmreich: Da muss man sich selber erstmal klarmachen, warum will ich arbeiten gehen, obwohl ich krank bin, was stehen für Motive dahinter. Die muss man dann hinterfragen - zum Beispiel: Müssen meine Kollegen wirklich meine ganze Arbeit übernehmen oder kann man Deadlines nach hinten schieben. Da sollte man gemeinsam mit dem Vorgesetzten oder den Kollegen und Kolleginnen gute Lösungen finden und oft geht das besser als man vielleicht denkt. Wichtig ist auch, sich immer wieder klar zu machen, dass es besser für einen selbst ist und man schneller wieder gesund und leistungsfähig ist, wenn man sich genügend Zeit nimmt, um sich richtig auszukurieren.

Aber in der Tat sind das Gewohnheiten, die sich nicht so schnell ändern lassen, das braucht seine Zeit. Wenn man auf diesem Weg nicht weiterkommt, sollte man sich auch professionelle Hilfe suchen.

SWR Aktuell: Was antworte ich dem Chef, der mir Druck macht, weil ich mich krank melde?

Helmreich: Das ist natürlich ein Problem, wenn da Chefs oder Chefinnen keine guten Vorbilder sind. Die haben tatsächlich eine ganz wichtige Vorbildfunktion - für die körperliche, aber auch für die seelische Gesundheit. Da muss man dann natürlich dasselbe tun: Gespräch suchen, erklären, dass man das Gefühl hat, dass sie das nicht ernst nehmen, wenn man wirklich krank ist.

Wenn das nicht fruchtet oder man denkt, dass man dadurch negative Konsequenzen erlebt, dann muss man natürlich eine Führungsebene höher gehen.

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