Schon als er ein kleiner Junge war, hörte Marcus Becker immer wieder von der angeblichen Millionenerbschaft, um die seine Familie vor vielen, vielen Jahren betrogen worden sein soll. 100 Jahre liegt die Sache mittlerweile zurück - doch in Undenheim (Kreis Mainz-Bingen) ist sie immer noch Thema.
Die Geschichte, die in Marcus Beckers Familie bis heute erzählt wird, haben einige Familienmitglieder in den 1950er-Jahren genau aufgeschrieben: eine Geschichte um Betrug, Verdunklung und Entrechtung. Hier ist sie.
Urahn hinterlässt Familie in Rheinhessen Vermögen von 350 Millionen Dollar
Angefangen hatte alles Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts. Damals war ein Urahn der Familie, Johann Jost Becker, nach Amerika ausgewandert und dort wohl zu beträchtlichem Reichtum gekommen. Johann hatte im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf Seiten der Amerikaner gekämpft und sich dabei offenbar heldenhaft hervorgetan. Dafür wurde er vom amerikanischen Staat reich beschenkt mit Ländereien in Pennsylvania.
Durch wirtschaftliches Geschick konnte Johann Becker sein Vermögen vermehren. Er starb als reicher Mann, als Besitzer von Ölquellen, Kohlegruben und Plantagen. Weil er selbst kinderlos war, hinterließ er alles der Familie seines Bruders in Rheinhessen.
In seinem Testament verfügte Becker 1839 allerdings, dass der Staat Pennsylvania seine Besitztümer noch 100 Jahre verwalten sollte. Erst danach sollte alles den Erben in Rheinhessen zufallen. Insgesamt belief sich das Vermögen mit Zins und Zinseszinsen damals angeblich auf mehr als 350 Millionen Dollar.
Familie bittet Kirchenmann vom Bistum Mainz um Hilfe
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Johann Schmahl, ein Großneffe des Verstorbenen, informiert, dass die Ländereien nun für die Erben frei seien. Die Familie schickte die erforderlichen Unterlagen an das Nachlassgericht in Philadelphia, die Hauptstadt von Pennsylvania. Nach einigem Hin und Her kam die Erburkunde 1914 in Rheinhessen an, so wird es in der Familie berichtet.
Es folgten der Erste Weltkrieg und Nachkriegswirren, so dass ein paar Jahre ins Land gingen, ohne dass sich etwas tat. Schließlich baten weitere Nachfahren des Erblassers im Jahr 1925 einen Kirchenmann um Hilfe. Der damalige Caritas-Direktor des Bistums Mainz, Alois Strempel, sollte ihnen bei der Übersetzung des Testaments aus dem Englischen helfen und sie in der Erbschaftsangelegenheit unterstützen.
Caritas-Direktor Strempel hatte plötzlich viel Geld
Und damit, davon sind viele Familienmitglieder bis heute überzeugt, nahm das Unheil seinen Lauf. Strempel reiste mit einer Vollmacht der Familie ausgestattet mehrfach nach Amerika. Angeblich wollte er dort Nachforschungen zum "Becker-Erbe" anstellen. Doch Geld sahen die Nachkommen von Johann Becker nie. Immer wieder habe Strempel sie hingehalten, berichteten damals Familienmitglieder. Das Original-Testament soll er unterschlagen haben.
Doch schon nach seiner ersten Amerika-Reise habe der Kirchenmann selbst plötzlich über große Summen Geld verfügt. Er habe Caritas-Häuser für das Bistum Mainz gebaut, in Industrien investiert und Hotels und Schlösser gekauft. Auch den Umbau des Mainzer Doms habe er finanziert und eine eigene Bank für Kirchenanleihen gegründet. Darüber hinaus sei auch die Verwandtschaft Strempels in der Folge überraschend zu Geld gekommen.
Laut Erbengemeinschaft auch Mainzer Bischof und Nazi-Größen verstrickt
Während der 1920er- und 1930er-Jahre versuchten die Becker-Erben über Gerichte, Strempel zur Rechenschaft zu ziehen. Doch jedesmal sei die Sache im Sande verlaufen, weil mittlerweile sowohl hochrangige Kirchenmänner wie der damalige Mainzer Bischof Hugo als auch einflussreiche Politiker der Nationalsozialisten in die Machenschaften verstrickt gewesen seien und auf unterschiedliche Weise von Strempels Geschäften profitiert hätten.
Laut Marcus Becker befinden sich in den Unterlagen eidesstattliche Erklärungen, die belegen, dass sogar Vizekanzler von Papen und der spätere Reichsminister Göring beteiligt waren. Zeugen und Juristen wurden den Aufzeichnungen zufolge unter Druck gesetzt. Zwei Verwandte von ihm seien wegen kritischer Äußerungen zur Beteiligung der Politik sogar kurzzeitig inhaftiert worden, sagt Becker.
Onkel übergibt Marcus Becker aus Undenheim Aufzeichnungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1950er-Jahren, unternahm die Familie zuletzt einen Anlauf. Damals riefen zwei Onkel von Marcus Becker die Becker'sche Erbengemeinschaft erneut ins Leben. Unter der Federführung des Erben Peter Hartmann dokumentierten sie den jahrzehntelangen Verlauf des Erbschaftsstreits und schickten ihre Aufzeichnungen an ein Gericht in Philadelphia (USA).
Sie beauftragten Anwälte, sammelten Geld bei den Verwandten und reisten in die USA. Doch irgendwann mussten auch sie aufgeben, weil sie der Rechtsstreit einfach zu viel Zeit, Nerven und auch Geld kostete.
Marcus Becker will keinen neuen Rechtsstreit
Vor Kurzem nun bekam Marcus Becker von seinem Onkel den Aktenordner voller Dokumente, alter Aufzeichnungen, Listen, Beschreibungen, in denen nach Ansicht der Familie der Betrug belegt ist. Was Becker jetzt damit machen will? "Erstmal gar nichts", sagt er. An das Geld jetzt noch heranzukommen, sei illusorisch.
Er finde einfach die Geschichte spannend und könnte sich vorstellen, die historischen Gegebenheiten einmal näher zu ergründen. "Vielleicht, wenn ich mal im Ruhestand bin und ganz viel Zeit habe", sagt Becker. Dann könnte er sich vorstellen, den Spuren seines Urahns Johann Jost Becker nachzugehen, um mehr über ihn zu erfahren.
Laut Marcus Becker hatte in den 1950er-Jahren zuletzt sein Urgroßvater versucht, mit der Kirche Kontakt aufzunehmen und der Sache in den Archiven des Bistums nachzugehen. Doch dort sei der Familie Hausverbot erteilt worden, so wurde es Becker erzählt.
Und er betont: "Ich kann mich ja nur an dem orientieren, was mir erzählt wurde und was hier in dem Ordner geschrieben steht. Was wirklich passiert ist, weiß ich auch nicht." Allerdings, glaubt Becker, irgendwas wird schon dran sein. Sonst hätten seine Vorfahren nicht so viel Zeit, Geld und Kraft da hinein gesteckt.
Bistum Mainz weist Vorwürfe zurück
Und was sagt das Bistum Mainz heute zu der ganzen Geschichte? Das weist die Vorwürfe gegen seinen ehemaligen Caritas-Direktor Strempel zurück. Nach derzeitigem Erkenntnisstand stütze der Befund aus den Akten des Dom- und Diözesanarchivs den Verdacht, er habe die "Becker-Erbschaft" an sich gebracht, nicht. Mehr noch: Laut Bistum gibt es Zweifel, dass eine solche Erbschaft überhaupt jemals bestanden habe.
Soweit es aus den Akten ersichtlich sei, habe sich Strempel in allen Rechtsauseinandersetzungen gegen die hinsichtlich der Becker-Erbschaft erhobenen Vorwürfe gegen seine Prozessgegner durchgesetzt, so das Bistum.
Weiter heißt es in der Antwort: "Wir würden es begrüßen, wenn das bislang nicht erforschte Thema "Becker-Erbschaft" einmal zum Gegenstand einer umfassenden historischen Studie gemacht würde, die alle Aspekte - auch die mediale und politische Dimension - gründlich ausleuchtet und alle noch verfügbaren Quellen berücksichtigt."
Vielleicht findet sich ja tatsächlich einmal ein Historiker oder eine Historikerin, die der Legende um die "Becker-Erbschaft" nachgehen wollen. Ein spannender Stoff für eine Doktorarbeit wäre es allemal.
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