Krisenforscher Frank Roselieb (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow)

Mögliche Folgen für Ermittlungsverfahren

Krisenforscher sieht Fehler in Gutachten zur Flutkatastrophe

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Constantin Pläcking
SWR-Reporter Constantin Pläcking aus dem Studio Koblenz. (Foto: SWR)

Krisenforscher Frank Roselieb sieht im Flut-Gutachten der Staatsanwaltschaft Koblenz handwerkliche Fehler. Diese Aussagen könnten das Ermittlungsverfahren beeinflussen.

Frank Roselieb vom Institut für Krisenforschung in Kiel hat sich auf SWR-Anfrage hin mit dem Gutachten befasst und sieht handwerkliche Fehler: Der Gutachter nimmt laut Roselieb offenbar an, dass die Flut an der Ahr 2021 so außergewöhnlich gewesen sei, dass es keinen Vergleich gebe. "In der Krisenforschung nennt man das einen Schwarzen Schwan'", so Roselieb.

Krisenforscher: Vergleichbare Hochwasser gab es 1804 und 1910

Davon könne man aber hier nicht ausgehen, denn die Hochwasser in den Jahren 1804 und 1910 seien in ihrer Dimension vergleichbar gewesen. Darauf habe auch schon eine Untersuchung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) kurz nach der Flut hingewiesen. "Das macht einige zentrale Kernaussagen des Gutachtens brüchig", so Roselieb.

Der Krisenforscher kritisiert, dass das Gutachten zu dem Schluss kommt, dass die Kreisverwaltung ohne spezifische Vorbereitung die Gefahr eines maximalen oder sogar noch höheren Hochwassers gar nicht habe erkennen können. Zumindest nicht bis Menschen konkret in Gefahr waren. In dieser Aussage stecke, so Roselieb, bereits die Annahme, dass die Flut ein nie dagewesenes Ereignis gewesen sei.

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Die Annahme eines "Schwarzen Schwans" ist bereits in der Aufgabenstellung der Staatsanwaltschaft Koblenz zu finden. So heißt es im Gutachten, das dem SWR vorliegt, dass der Gutachter berücksichtigen solle, dass die Flutkatastrophe außergewöhnlich sei.

Roselieb: Kreisverwaltung hätte Führungssystem ausbauen müssen

Die Staatsanwaltschaft Koblenz zitiert den Gutachter: "Die anwesenden Personen haben alles gegeben - das Führungssystem ließ nur nicht mehr zu." Diesen Satz kann Roselieb nicht nachvollziehen, denn es wäre im Vorfeld auch die Aufgabe der Kreisverwaltung gewesen, das Führungssystem auszubauen. Hier wünscht sich Roselieb mehr Differenzierung.

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Der Gutachter habe außerdem bereits zuvor geschrieben, dass nicht bekannt sei, was die Mitglieder der Technischen Einsatzleitung erlebt hätten, der Leiter gedacht habe und wie es zu Entscheidungen gekommen sei. Mit dem zitierten Satz ziehe der Gutachter daher Schlüsse, die plausibel aus dem untersuchten Material gar nicht gezogen werden können, was er sogar selbst einräume. Der Gutachter könne damit auch gar nicht wissen, wie viel die Anwesenden gegeben hätten.

Gutachten belastet Ex-Landrat Jürgen Pföhler

Positiv bewertet Roselieb, wie der Gutachter die mutmaßlichen Fehler von Ex-Landrat Jürgen Pföhler (CDU) zusammenträgt. Das Gutachten belaste den damaligen Landrat von Ahrweiler auch in zentralen Punkten: So sei dieser vorab sehr gut über den mangelnden Katastrophenschutz im Landkreis informiert gewesen.

Pföhler hat demnach unter anderem gewusst, dass es keinen Verwaltungsstab gibt, dass er selbst keinen Lehrgang an der damaligen Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz des Bundes (AKNZ) - heute Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung (BABZ) - gemacht hat und dass der Stabsraum nicht ausreichend gewesen war.

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Es sei außerdem gut belegt, dass Pföhler versucht habe, die Verantwortung auf Dritte zu übertragen. Selbst bei Stufe 5, also bei Katastrophenalarm, in der Flutnacht, sei er seiner Pflicht im Stab nicht nachgekommen. An diesem Punkt habe er nicht mehr delegieren dürfen.

Hätten durch bessere Vorbereitung Menschen im Ahrtal gerettet werden können?

Roselieb wundert sich deswegen auch darüber, dass der Gutachter sich zurückhält, Kausalketten zu benennen: Zwar würde im Gutachten ein Zusammenhang zwischen Prävention und den Möglichkeiten der Krisenbewältigung gezogen, aber dass durch eine bessere Vorbereitung auch Menschenleben hätten gerettet werden können, diesen Schluss ziehe der Gutachter nicht.

"Überspitzt formuliert verhält er sich wie der Arzt, der zwar viele Untersuchungen durchführt und Laborergebnisse sichtet, sich aber nicht auf eine bestimmte Krankheit festlegen will", sagt Roselieb. Eine solche Diagnose helfe nicht weiter. Roselieb kenne das aus anderen vergleichbaren Gutachten auch anders, dort würde beispielsweise mit Prozentzahlen angegeben, wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können.

Die Staatsanwaltschaft spricht genau in diesem Zusammenhang selbst von einem "Dilemma". Sie muss nämlich nachweisen, welche Nicht-Handlung der Verantwortlichen konkret zu welchen Toten geführt hat.

Hinterbliebenenanwalt: Gutachtenauftrag war "ergebnisorientiert"

Der Koblenzer Anwalt Christian Hecken, der mehrere Hinterbliebene der Flutkatastrophe als mögliche Nebenkläger vertritt, nannte das Gutachten einen "Skandal". Auf die Einschätzung von Roselieb angesprochen, kündigte Hecken gegenüber dem SWR an, für das Ermittlungsverfahren eine ausführliche Stellungnahme zu erbitten: "Es entsteht der Eindruck, dass durch das Gutachten eine öffentliche Hauptverhandlung um jeden Preis vermieden werden soll."

Roselieb habe klar herausgestellt, dass der Auftrag der Staatsanwaltschaft Koblenz an den Gutachter "ergebnisorientiert" - also voreingenommen - erfolgt sei. Roseliebs Aussage entwerte das Gutachten. Hecken möchte sie zu einem Teil der Emittlungsakte machen und fordert, dass die Staatsanwaltschaft gegen Ex-Landrat Pföhler Anklage erhebt.

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