Mehrere Flüchtlinge sind in der Notunterkunft in der Sporthalle der Berufsfachschule in Friedrichshafen am Bodensee untergebracht.

200.000 Geflüchtete in 20 Monaten in BW

Flüchtlingspolitik: Kommunen fordern Richtungswechsel vom Bund

Stand
Autor/in
Henning Otte
SWR-Reporter und -Redakteur Henning Otte, SWR Landespolitik
Onlinefassung
Samantha Ngako
Redakteurin Samantha Ngako im Portrait

Die Menschen in Baden-Württemberg sehen aktuell in der Zuwanderung das drängendste Problem im Land. Die Kommunen wollen den Zuzug so nicht mehr hinnehmen, die Lage vor Ort sei ernst.

Angesichts der steigenden Zuwanderung erhöhen die Kommunen in Baden-Württemberg den Druck auf den Bund. Nach Monaten des Abwartens müsse die Ampel-Regierung in Berlin endlich eine effektive "Begrenzungsstrategie" vorlegen, fordern Gemeinde- und Landkreistag. Die Lage vor Ort sei ernst, Helfende und Behörden seien am Limit, in Kitas und Schulen gebe es keine weiteren Kapazitäten.

"Wir brauchen daher dringend einen Richtungswechsel in der Migrationspolitik", sagte Joachim Walter, Präsident des Landkreistags, dem SWR. Es seien nun schnelle Schritte nötig, um eine Überforderung des Gemeinwesens abzuwenden. "Außer kleinteiligen Initiativen und vielen Ankündigungen gibt es bislang keine wirksamen Maßnahmen", kritisierte Steffen Jäger, Chef des Gemeindetags.

Unterstützung von Innenminister Strobl

Auch BW-Innenminister Thomas Strobl (CDU) äußerte sich: "Die Städte, Gemeinden und Landkreise sind am Anschlag und haben recht mit ihrem Hilferuf. Ihre Belastungsgrenze ist erreicht und überschritten. Diesen Hilferuf muss die Ampel in Berlin endlich ernst nehmen und nicht streiten, sondern handeln." Man säße "aktuell auf einem Pulverfass, von dem nur Rechtspopulisten profitieren."

Türkei soll auf Liste der sicheren Herkunftsländer

Die Bundesregierung müsse die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitern, und zwar nicht nur um die Republik Moldau und Georgien, sondern auch um die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien sowie die Türkei. Aus dem Nato-Land Türkei seien zuletzt mit die meisten Asylsuchenden gekommen - obwohl die Anträge vieler Menschen nicht anerkannt würden.

An Kanzler Olaf Scholz (SPD) appellierten die Kommunalverbände, sich entschieden für eine gerechtere Verteilung der Geflüchteten in der Europäischen Union einzusetzen. "Wenn europäische Solidarität bei der Geflüchtetenaufnahme nicht auf freiwilliger Basis erreicht werden kann, muss sie jetzt forciert werden", sagte Jäger. Am Mittwoch war bekanntgeworden, dass Scholz trotz Widerstands der Grünen entschieden hat, der Verschärfung des Asylsystems der EU zuzustimmen.

SWR Aktuell - der Morgen in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren: Newsletter mit BW-Nachrichten am Morgen!

Sie wollen morgens auf dem neuesten Stand sein? Dann abonnieren Sie "SWR Aktuell - der Morgen in BW". Die News aus Ihrem Bundesland ganz bequem in Ihrem Mailpostfach.

Grenzkontrollen und niedrigere Sozialleistungen

Außerdem fordern die Kommunen Grenzkontrollen, eine Senkung der Sozialleistungen für Flüchtlinge sowie schnellere Asylverfahren. Denn nur so könne die Entscheidung über das Bleiberecht schon in der Erstaufnahme fallen. "Eine Weiterverteilung auf die Kommunen darf nur erfolgen, wenn ein Bleiberecht wirksam festgestellt wurde", heißt es vom Gemeindetag. 

Das Vertrauen der Menschen in den Staat sei wegen der Migrationspolitik beschädigt, so der Präsident des Landkreistags, der Tübinger Landrat Walter. "Um dieses Vertrauen zurückzugewinnen, braucht es eine aktive Migrationspolitik, die die vorhandenen Gestaltungsspielräume energisch nutzt und die kommunale Wirklichkeit fest im Blick hat, statt sie auszublenden." Die repräsentative Umfrage BW-Trend von Infratest dimap im Auftrag von SWR und "Stuttgarter Zeitung" hatte ergeben, dass vier von zehn Menschen im Land, Zuwanderung und Flucht als wichtigstes politisches Problem im Land sehen.

Baden-Württemberg

Brandbrief an Kretschmann Minderjährige Flüchtlinge: Landesregierung stellt Städten Hilfe in Aussicht

Mehrere Städte in BW wenden sich mit einem Hilferuf an die Landesregierung. Sie fordern Unterstützung bei der Unterbringung von geflüchteten unbegleiteten Kindern und Jugendlichen.

SWR Aktuell Baden-Württemberg SWR Fernsehen BW

Verständnis für Forderungen der Kommunen - Kritik an gewünschter Einstufung der Türkei

Das Migrationsministerium in Stuttgart reagierte verständnisvoll auf die Forderung der Kommunen. Eine Sprecherin sagte dem SWR, die Türkei sei seit mehreren Monaten auf Platz eins der Herkunftsländer - im Juni mit rund 29 Prozent, im Juli mit etwa 33 Prozent und im August mit fast 40 Prozent. Allein im August sind ungefähr 1.600 Türkinnen und Türken gekommen. Das sind deutlich mehr Menschen als aus Syrien und Afghanistan.

Auch bundesweit sei die Türkei mit aktuell 20 Prozent der Zugänge das zweitstärkste Hauptherkunftsland. "Diese Entwicklung beobachten wir mit Sorge, denn die Kapazitäten in Baden-Württemberg sind nahezu ausgeschöpft. Es werden allgemein Diskussionen darüber notwendig sein, wie die vorhandenen Kapazitäten optimal zum Schutz derer eingesetzt werden können, die ihn am dringendsten brauchen", sagte die Sprecherin von Ministerin Marion Gentges (CDU).

Warum so viele Menschen aus der Türkei nach Deutschland kommen, ist laut Experten nicht ganz klar. Man vermutet mehrere Gründe: Die türkische Wirtschaft steckt in der Krise und selbst die Mittelschicht hat Probleme über die Runden zu kommen. Zudem geht das Regime von Präsident Recep Tayyip Erdoğan weiter mit Willkür und Härte gegen Kritiker und Oppositionelle vor.

Der Flüchtlingsrat in Baden-Württemberg kritisierte den Vorschlag von Landkreis- und Gemeindetag. "Die Idee, die Türkei als sicheren Herkunftsstaat einzustufen, ist eine sehr populistische Idee." Man wolle damit dafür sorgen, dass weniger Menschen nach Baden-Württemberg kommen, sagte Anja Bartel vom Flüchtlingsrat. "Die Betroffenen werden stigmatisiert, es wird suggeriert, dass es sich um Menschen ohne Asylgrund handeln würde, die das Asylsystem nur ausnutzen wollen würden."

Rückgriff auf Notunterkünfte möglich

Landkreis- und Gemeindetag verwiesen darauf, dass seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine rund 176.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen worden seien. Diese müssen aufgrund einer Sonderregelung keinen Asylantrag stellen. Hinzu kämen über 24.000 Erstanträge auf Asyl in den ersten acht Monaten. "Das ist doppelt so viel wie im Vorjahr. Und die Zugangsdynamik nimmt weiter zu", beklagte Walter und warnte: "Wenn es weiterhin nicht gelingt, die Zugangszahlen zu begrenzen, wird immer häufiger auf Notunterkünfte zurückgegriffen werden müssen."

Es wäre für den sozialen Zusammenhalt fatal, wenn in Kreistagen sowie Stadt- und Gemeinderäten darüber debattiert werden müsste, welche wichtige kommunale Maßnahme zurückgestellt werden muss, um die Migrationskosten decken zu können.

Landkreis- und Gemeindetag pochen zudem darauf, dass anerkannte Asylbewerberinnen und -bewerber besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. "Hier muss es darum gehen, in Zeiten des Arbeitskräftemangels den Einstieg ins Arbeitsleben zu erleichtern, aber auch einzufordern", sagte Jäger.

Es könne nicht angehen, dass diese Menschen keine Beschäftigung aufnehmen könnten und ihre Abschlüsse nicht anerkannt würden. Er sagte aber auch: "Sozialleistungen wiederum müssen enger mit konkreten Mitwirkungspflichten verbunden werden. Dazu gehören auch Leistungskürzungen, wenn zur Verfügung gestellte Arbeitsgelegenheiten nicht wahrgenommen werden."

Ludwigsburg

Asylarbeitskreise sehen noch keine Notlage Kreis Ludwigsburg überlastet: Landrat warnt vor Notunterkünften für Geflüchtete

Landrat Dietmar Allgaier schlägt Alarm wegen der Zahlen an Geflüchteten im Kreis Ludwigsburg - es drohten wieder Notunterkünfte. Ehrenamtliche sehen Lage indes noch nicht kritisch.

SWR4 BW am Nachmittag SWR4 Baden-Württemberg

Verbände fordern mehr Geld für Unterbringung

Die Kommunalverbände mahnten beim Bund an, die finanzielle Unterstützung für Städte und Gemeinden dürfe auf keinen Fall gekürzt werden, sondern müsse an die tatsächlichen Kosten angepasst - also erhöht - werden. Für den sozialen Zusammenhalt wäre es fatal, wenn in den politischen Gremien darüber diskutiert werden müsse, welche wichtigen kommunalen Maßnahmen zurückgestellt werden müssten, "um Migrationskosten decken zu können", so Walter. Komme der Bund nicht für die Kosten auf, müsse das Land einspringen.

Mehr zum Thema Zuwanderung

Baden-Württemberg

Repräsentative Umfrage BW-Trend September 2023 Sonntagsfrage Landtagswahl: CDU zieht davon, AfD nur noch knapp hinter Grünen

Die CDU liegt seit langem wieder weit vor den Grünen, die AfD sitzt den Grünen im Nacken. Zuwanderung wird als Problem Nummer eins in BW gesehen. Alle Ergebnisse der Umfrage.

SWR Aktuell Baden-Württemberg SWR Fernsehen BW

Baden-Württemberg

Brandbrief an Kretschmann Minderjährige Flüchtlinge: Landesregierung stellt Städten Hilfe in Aussicht

Mehrere Städte in BW wenden sich mit einem Hilferuf an die Landesregierung. Sie fordern Unterstützung bei der Unterbringung von geflüchteten unbegleiteten Kindern und Jugendlichen.

SWR Aktuell Baden-Württemberg SWR Fernsehen BW

Reaktionen auf aktuellen BW-Trend BW-Grüne verlieren an Zustimmung: Kretschmann sieht Verunsicherung bei Wählern

Die BW-Grünen haben in der aktuellen Sonntagsfrage weiter an Zustimmung verloren. Ministerpräsident Kretschmann hat eine Erklärung für die schlechter werdenden Umfragewerte.

SWR Aktuell Baden-Württemberg SWR Fernsehen BW

Baden-Württemberg

SWR Aktuell - der Morgen in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren: Newsletter mit BW-Nachrichten am Morgen!

Sie wollen morgens auf dem neuesten Stand sein? Dann abonnieren Sie "SWR Aktuell - der Morgen in BW". Die News aus Ihrem Bundesland ganz bequem in Ihrem Mailpostfach.

Mehr von SWR Aktuell Baden-Württemberg

Baden-Württemberg

Die wichtigsten News direkt aufs Handy SWR Aktuell Baden-Württemberg ist jetzt auch auf WhatsApp

Der WhatsApp-Kanal von SWR Aktuell bietet die wichtigsten Nachrichten aus Baden-Württemberg, kompakt und abwechslungsreich. So funktioniert er - und so können Sie ihn abonnieren.

Baden-Württemberg

SWR Aktuell - der Morgen in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren: Newsletter mit BW-Nachrichten am Morgen!

Sie wollen morgens auf dem neuesten Stand sein? Dann abonnieren Sie "SWR Aktuell - der Morgen in BW". Die News aus Ihrem Bundesland ganz bequem in Ihrem Mailpostfach.

Reportagen, Shorts und Erklärvideos SWR Aktuell nun mit eigenem YouTube-Kanal am Start

Ab sofort ist SWR Aktuell auch bei YouTube mit einem eigenen Kanal zu finden. Damit ist die Nachrichtenmarke des SWR künftig neben Instagram und Facebook auch auf der wichtigsten Nachrichtenplattform präsent.