Zuhörende Menschen bei einem Vortrag und einer Buchvorstellung zu "Euthanasie"-Opfern in Mosbach während der NS-Zeit.  (Foto: SWR)

NS-Verbrechen im Odenwald

Buch mit Lebensgeschichten von "Euthanasie"-Opfern aus Mosbach erschienen

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AUTOR/IN
Judith Hüwelmeier

Unter den Opfern der NS-"Euthanasie" waren auch Menschen aus Mosbach. Eine Arbeitsgruppe aus Ehrenamtlichen hat 29 Lebensgeschichten recherchiert und jetzt ein Buch veröffentlicht.

Die Schicksale von 29 Opfern der NS-Krankenmorde, die in Mosbach geboren wurden oder lebten, hat eine engagierte Arbeitsgruppe aus Bürgerinnen und Bürgern aufgeschrieben. Jetzt ist ihr Buch erschienen. Ein 18-köpfiges Autoren-Team, zu dem auch zwei Nachfahren von "Euthanasie"-Opfern gehören, hatte fünf Jahre lang recherchiert. Sie haben Patientenakten und Standesamtunterlagen gelesen, Archive kontaktiert und Nachfahren gesucht. Mal sind sie in Sackgassen gelaufen, oft waren sie erfolgreich.

Mehr als 200.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden zwischen 1940 und 1945 Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Programme. Sie galten in der NS-Ideologie als "lebensunwert", wurden vergast oder starben in Pflegeeinrichtungen an Hunger oder wurden mit Medikamenten vergiftet. 263 von ihnen lebten in der Mosbacher "Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwäche", der heutigen Johannes-Diakonie.

Todesursache des Mosbachers Karl Heinrich Groh: frei erfunden

Jürgen Heuss hat die Geschichte seines Großvaters aufgeschrieben, den er selbst nie kennengelernt hat. Karl Heinrich Groh, 1878 geboren, war Metzger und Wirt des Gasthauses "Zum Lamm" in Mosbach. Er litt an einer Erbkrankheit, die ihn zunehmend erblinden ließ. Anfang der Dreißigerjahre wurde er Witwer, kurze Zeit später machte ihn die Wirtschaftskrise mittellos. Sein Großvater sei blind und hilflos in eine Kreispflegeanstalt nach Krautheim gekommen, erzählt er. Das nächste, was Heuss Mutter von ihrem Vater hörte, war die Todesnachricht: Er sei in einer Anstalt in Brandenburg an einer Krankheit gestorben. Eine Lüge der Nazis, wie sich herausstellte - denn Karl Heinrich Groh war 1940 in die Vernichtungsanstalt Grafeneck transportiert und dort ermordet worden.

Zuhörende Menschen bei einem Vortrag und einer Buchvorstellung zu "Euthanasie"-Opfern in Mosbach während der NS-Zeit.  (Foto: SWR)
Jürgen Heuss ist einer der Nachfahren der Mosbacher NS-"Euthanasie"-Opfer.

Emotional nicht leicht für Autorinnen und Autoren

"Wenn man so tief in die Familiengeschichte reingeht, vielleicht auch nach dem Tod im Keller sucht, dann nimmt einen das emotional ziemlich mit", sagt Jürgen Heuss, der als Friseur einen eigenen Salon in Mosbach hatte und sich schon immer für Geschichte interessiert hat.

Zeit zum Verarbeiten hat auch Hildegard Rehne gebraucht. Die Mosbacherin war Gymnasiallehrerin für Geschichte, Englisch und Ethik und hat gleich mehrere Lebensgeschichten von "Euthanasie"-Opfern für das Buch recherchiert.

Es waren fünf intensive Jahre der Recherche, die mich zum Teil sehr mitgenommen haben. Wie oft habe ich als Lehrerin die NS Zeit unterrichtet, aber trotz allem - es lässt einen nicht los.

Schreckliche Frauenschicksale - wie von Berta A. aus Sattelbach

Besonders betroffen gemacht hätten sie die Schicksale der weiblichen Opfer der NS-"Euthanasie". "Da hatte ich das Gefühl, sie wurden doppelt bestraft. Nicht nur aufgrund der Erkrankung, sondern auch aufgrund des Geschlechts", sagt Hildegard Rehe. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Berta A. aus Mosbach-Sattelbach, der aufgrund der "erblichen Vorbelastung" durch den Vater eine "unheilbare Schizophrenie" diagnostiziert wurde. Sie wurde 1940 in Grafeneck ermordet. Oder Wilhelmina Wentenhöfer, ebenfalls aus Sattelbach, die nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Geliebten als "auffällig" beschrieben wurde und daraufhin wegen einer diagnostizierten "unheilbaren Geisteskrankheit" die nächsten 30 Jahre ihres Lebens in Heil- und Pflegeanstalten verbrachte. 1940 wurde auch sie in in Grafeneck von den Nazis ermordet.

Über der Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg (Hessen) qualmt der Schornstein des Krematoriums.  (Foto: Pressestelle, Diözesanarchiv Limburg (DAL), Nachlass Pfarrer Becker, Fotograf (vermutl.) Wilhelm Reusch)
In der Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg in Hessen wurden in der NS-Zeit mehrere tausend Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ermordet.

"Gedenkkultur an Opfer der "Euthanasie" noch ausbaufähig"

Hans-Werner Scheuing, der als Sonderschulpädadoge in der Johannes-Diakonie Mosbach gearbeitet und zur Geschichte der Einrichtung im Dritten Reich promoviert hat, hat einen großen Teil der Recherchearbeit zum Buch ins Rollen gebracht. Er hat viele Akten aus dem Bundesarchiv besorgt und dem Kulturamt in Mosbach zur Verfügung gestellt. Seine Arbeit mit behinderten Menschen war für ihn der Auslöser, die Geschichte der NS-"Euthanasie-Opfer" in Mosbach zu erforschen. Er wünscht sich, dass die Geschichte der NS-"Euthanasie" auch bundesweit besser erforscht wird. Es gebe viele und gute Forscher, aber noch keine entsprechende Gedenkkultur, wie für die Juden in Deutschland. Da müsste noch mehr getan werden.

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Die Mordfabrik Grafeneck auf der Schwäbischen Alb

Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Hier starben zwischen Januar und Dezember 1940 etwa 11 000 Menschen durch Kohlenmonoxidgas. Grafeneck war damit der erste Ort im nationalsozialistischen Deutschland, an dem Menschen systematisch und „industriell" ermordet wurden.
Die Morde von Grafeneck gehören zu den schrecklichsten Verbrechen der Nationalsozialisten. Die Opfer, meist körperlich oder psychisch beeinträchtigt, stammten aus Krankenanstalten und Heimen im heutigen Baden-Württemberg, in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Die Morde waren Teil der von den Nationalsozialisten sogenannten „Aktion T4" oder „Euthanasie-Aktion". Sie verdeutlichen die menschenverachtende Politik und Ideologie des NS-Regimes und seiner Verantwortlichen. Diese mordeten, weil sie Nahrungsmittel sparen wollten, Platz für Militärlazarette benötigten und weil sie sich von der Ermordung der Schwachen und Kranken eine Gesundung des „Volkskörpers" versprachen. Die Opfer bezeichneten sie als „lebensunwerte Ballastexistenzen" und „seelenlose Menschenhülsen".
Im Zentrum dieser Dokumentation stehen drei Opfer und deren Hinterbliebene: Emma Dapp, deren Enkel Hans-Ulrich eine Biografie seiner Großmutter geschrieben hat; Martin Bader, dessen Sohn Helmut das Leben des Vaters recherchiert hat; und Dieter Neumaier, der als Kind ermordet wurde und dessen älterer Bruder ihn nie vergessen hat.

Spuren der NS-Zeit SWR

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Judith Hüwelmeier