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Schule ohne Noten – Verstehen statt sturem Pauken

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Andrea Lueg
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Ulrike Barwanietz
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Während die einen Noten für motivierend halten, finden die anderen, sie führen nur zu kurzfristigem Pauken statt zum nachhaltigen Verstehen.

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Forschung hat keine Beweise für Objektivität von Noten

Schulen ohne Noten gibt es schon seit Jahrzehnten und derzeit an 39 Grundschulen in Baden-Württemberg. Denn schon lange fragen sich Pädagogen, was sie Kindern beim Lernen eigentlich bringen. Wird nur stur für die Note gepaukt, damit am Ende das Zeugnis gut aussieht? Geht es nicht vielmehr darum, zu verstehen, was unterrichtet wird?

Viele Studien setzen sich mit der Frage auseinander, ob Noten überhaupt nützlich sind. Wissenschaftlerinnen um den Pädagogen Hans Brügelmann kamen 2006 zum Beispiel zu dem Ergebnis:

"Ziffernnoten sind immer noch die häufigste Form formeller Leistungsbewertung in der Schule. Aber die Forschung zeigt seit langem: Noten sind nicht in der behaupteten Weise für das Lernen nützlich und sie sind erst recht nicht nötig. Sie betonen einseitig die Bewertungsfunktion – können aber auch diese wegen ihrer mangelnden Aussagekraft, Vergleichbarkeit und Objektivität nicht angemessen erfüllen."

Empirische Beweise dafür, dass Noten objektiv sind, fand das Forschungsteam nicht.

Coachinggespräch: Heidelberger Schule setzt auf verbale Beurteilung

Thilo Engelhardt ist Leiter der Waldparkschule in Heidelberg, einer Gemeinschaftsschule mit Unterricht auf Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialniveau. Bis zur 9. Klasse gibt es hier für die Kinder keine Noten, sondern jede Woche ein Coachinggespräch mit dem Lehrer oder der Lehrerin. Zweimal im Jahr findet ein Eltern-Kinder-Lehrer-Gespräch statt. Die Kinder erklären ihren Eltern dabei, wie ihr Leistungsstand ist.

Doch Schule ohne Noten funktioniere nicht, indem man einfach die Noten weglässt, genau genommen müsse sich die ganze Schule verändern, so Thilo Engelhardt. Er will kein "Bulimie-Lernen", wie er es nennt: Stures Lernen für eine gute Note – was man danach wirklich verstanden habe, sei eigentlich egal. Er möchte, dass seine Schüler wirklich verstehen, was sie lernen und sich damit weiterentwickeln können.

Keine Hausaufgaben und kein Sitzenbleiben an der Waldparkschule Heidelberg

Was es an der Waldparkschule nicht gibt, sind Hausaufgaben oder Sitzenbleiben. Auch Jogginghosen und Baseballcaps trägt hier niemand. Diese Regel hat die Schülerschaft sich selbst überlegt. Sie nehmen ihre Aufgaben ernst. Trotzdem geht es auch an der Waldparkschule um Leistung. Noten aber, findet man hier, selektieren in erster Linie und motivieren höchstens diejenigen, die ständig Einsen und Zweien schreiben.

Die Waldparkschule hat einen gleitenden Schulbeginn bis 8.30 Uhr. Meist finden die Coachinggespräche in diesem flexiblen Anfang statt. Alle Schülerinnen haben einen eigenen Arbeitsplatz mit Tisch und Bücherregal. Es ist ruhig, wenn die Kinder hier an ganz unterschiedlichen Aufgaben arbeiten: Einer macht Mathe, eine andere übt Vokabeln. Zwei Stunden am Tag arbeiten alle so. Sie lernen im eigenen Tempo auf unterschiedlichen Niveaus. Es gibt aber auch Gruppenarbeit, Tests und Lehrkräfte, die etwas erklären. Entsprechend wechseln alle immer wieder den Ort.

Lehrerin korrigiert Vokabeltest: Eine Bewertung durch Noten ist effizient und schafft rasche Vergleichbarkeit. Es gibt aber Kritik am Notensystem: Es fehle an Objektivität, Stimmungen der Lehrenden können in die Beurteilung einfließen und Noten verleiteten dazu, für Klausuren und Tests Wissen zu pauken, ohne Inhalte wirklich zu durchdringen und zu verstehen. (Foto: IMAGO, IMAGO / Jürgen Ritter)
Eine Bewertung durch Noten ist effizient und schafft rasche Vergleichbarkeit. Es gibt aber Kritik am Notensystem: Es fehle an Objektivität, Stimmungen der Lehrenden können in die Beurteilung einfließen und Noten verleiteten dazu, für Klausuren und Tests Wissen zu pauken, ohne Inhalte wirklich zu durchdringen und zu verstehen.

Kritik: Vorsitzender des Philologenverbands BaWü lehnt Schule ohne Noten ab

Ralf Scholl, Vorsitzender des Philologenverbandes Baden-Württemberg, lehnt eine Schule ohne Noten ganz klar ab – auch den aktuellen Schulversuch in Baden-Württemberg. Vor allem bei Familien mit Migrationsgeschichte sieht Scholl ein Problem: Die Eltern würden die Verbalbeurteilungen oft nicht verstehen können, meint er. Zudem würden die stärkeren Schüler benachteiligt, so Scholl.

"Seit, ich würde sagen, 20 bis 30 Jahren fördern wir die Starken nicht mehr, sondern das Augenmerk ist zu 80 Prozent oder mehr auf die Schwächsten gerichtet."

An der Waldparkschule in Heidelberg kann Lehrer Thilo Engelhardt nicht feststellen, dass Eltern mit den verbalen Beurteilungen schlechter zurechtkommen. Im Gegenteil: Seit der Einführung gäbe es eine viel größere Elternakzeptanz und ein größeres Interesse der Eltern an der Schule generell, so Thilo Engelhardt.

Noten sind aus wissenschaftlicher Sicht nicht gerecht

Dass Noten vielleicht deutlich seien, aber keineswegs gerecht, würde man in der Forschung schon lange wissen, meint Silvia Beutel, Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik an der TU Dortmund, die ein Buch mit dem Titel "Lernen ohne Noten" veröffentlicht hat. Auch eine Studie an der Uni Tübingen aus dem Jahr 2012, unter anderen von Ulrich Trautwein, stellte fest: Die Herkunft von Kindern wird mitzensiert. Wenn die Eltern Akademiker sind, fallen die Noten laut der Studie besser aus. Hat das Kind hingegen einen Migrationshintergrund, dann wird es schlechter benotet, auch wenn seine Leistungen nicht schlechter sind.

Noten messen also nicht nur einfach das, was gemessen werden soll. Denn zum Beispiel auch die Stimmung einer Lehrerin und eines Lehrers beeinflussen die Notengebung. Das haben wissenschaftlichen Untersuchungen ebenfalls nachgewiesen. Vor allem an den Übergängen, also von der Grund- zur weiterführenden Schule, oder von der Schule in Beruf oder Studium ist das problematisch, weil es Kindern und Jugendlichen Chancen verbauen kann.

Noten ermöglichen schnelle und effiziente Bewertung

Note Eins bis Sechs – das klingt überschaubar und klar. Und, so meint Lehrer und Influencer Bob Blume, die Noten brächten eine gewisse Effizienz in die Bewertung. Sprich: Noten kann man vergleichsweise schnell vergeben. Blume unterrichtet Deutsch, Englisch und Geschichte am Windeck-Gymnasium in Bühl. Bei Twitter hat er als "Netzlehrer" viele Follower, auf SWR3 spricht er im Podcast "Die Schule brennt".

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Bob Blume ist selbst auf eine Schule ohne Noten gegangen, eine Waldorfschule. Und heute als Lehrer muss er an seiner Schule Noten geben, obwohl er davon nicht überzeugt ist. Denn sie führten nicht dazu, so Blume, dass Schüler überlegten, was sie wirklich interessiere, in welche Richtung sie gehen wollten. Sondern es gehe vor allem darum, was man tun müsse, um eine bestimmte Note zu bekommen.

Noten verhindern Lust am Lernen – meint Netzlehrer Bob Blume

Die Noten, sagt Blume, trainierten die Lust am Lernen ab. Und damit auch das Erkennen eigener Stärken und Schwächen und den Willen, sich aus sich selbst heraus weiterzuentwickeln. Die Frage sei, welches Ziel Schule eigentlich erreichen wolle. Wenn es um Selektion gehe, dann seien Noten vielleicht geeignet, so Bob Blume.

"Wer aber möchte, dass jeder Schüler in der Schule dazu befähigt wird zu lernen, Interesse und Neugierde zu entwickeln und zu einem Punkt zu kommen, an dem er oder sie nach der Schule an der Kultur teilhaben kann, für ein finanzielles Auskommen zu sorgen, mit dem man autonom leben kann und das Gefühl zu haben, selbstwirksam in der Gesellschaft zu sein, wer das möchte, der kann aus meiner Sicht gar nicht für Noten sein."

Schule funktioniert auch ohne Noten

Die Wissenschaft hat keine Belege dafür gefunden, dass Schule Noten braucht, noch nicht einmal, dass sie hilfreich sind. Die Waldparkschule in Heidelberg hat sich längst getraut, die Benotung von Leistungen über den Haufen zu werfen. Seit Jahren machen Schüler hier Abschlüsse, ohne über eine Reihe von Jahren Noten bekommen zu haben. Sie gehen in die Ausbildung oder studieren. 2017 bekam die Schule den Deutschen Schulpreis.

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