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Vladimir Jankélévitch: Schriften zur Musik erstmals auf deutsch

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AUTOR/IN
Christoph Vratz

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Die russisch-jüdische Familie Jankélévitch siedelte gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Frankreich über und wurde dort heimisch. Der Vater, ein Mediziner, übersetzte Schelling und Hegel ins Französische, sein Sohn Vladimir wurde Philosoph – und einer der feinsinnigsten Musikschriftsteller seiner Zeit. Jetzt ist eine Auswahl seiner Schriften zur Musik erstmals in deutscher Sprache erschienen.

Virtuosität? Nein danke!

„Das blendende Licht ist zu kurzlebig und spendet zu wenig Helligkeit. Es erhellt unseren Weg nicht.“

Für den französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch ist Virtuosität im rein sportlichen Sinne – mit vielen Noten in kürzester Zeit – oder als pures Glanzstück, als vordergründiges Blendwerk ohne jede Bedeutung. Wahre Virtuosität äußert sich auf andere Weise, etwa bei Gabriel Fauré.

„Faurés Klavierstil <verwirklicht>das Paradox einer diskreten, geheimen und gewissermaßen esoterischen Virtuosität; man würde sagen, dass die Virtuosität geschworen habe, sich hier unmerkbar zu machen.“

Vladimir Jankélévitch war ein passionierter Hobbypianist und notorischer Noten-Sammler, in seiner Kindheit angeregt durch den Vater und die Klavier studierende Schwester. Schon früh war er eng ans Pariser Musikleben angebunden. Im Laufe der Jahre hat Jankélévitch sich ein großes musikalisches Wissen angeeignet und sich seine fast naive Lust an der Materie bewahrt. Keine Selbstverständlichkeit für jemanden, der u.a. als Professor für Philosophie in den frühen 1950er Jahren sein Geld verdient hat. Was treibt einen solchen Mann dazu, Schriften zur Musik zu verfassen? Es ist seine Leidenschaft. Das schlägt sich auch in seinen Texten nieder, etwa zur Virtuosität oder zur Kunst der Improvisation:

„Der Improvisator variiert kein gegebenes Thema, sondern versucht oder beansprucht eine melodische Suggestion […] So kommt es bei ihm vor, dass er in eine Sackgasse gerät, die ihn nötigt, den Rückweg einzuschlagen: Eine bestimmte angedeutete Idee erweist sich als ausweglos.“

Diese Form eines fast rhapsodischen Improvisierens erkennt Jankélévitch beispielsweise in einigen Werken von Franz Liszt: in seinen Paraphrasen oder in den unvermittelten Rezitativen im „Obermann-Tal“ aus den „Wanderjahren“.

Jankélévitch bindet eine ganze Liste von Beispielen in seinen Text ein, die zeigen, dass auch auskomponierte Musik wie eine Improvisation wirken kann, ob bei Paul Dukas, Rimsky-Korsakow oder Chopin. Dabei leitet Jankélévitch das Phänomen Improvisation aus unserem Alltag ab:

„Der Improvisator findet seinen Platz bei der Wahrheit des Provisorischen wieder. […] In der Improvisation will der allzu Vorausschauende die Unschuld eines Lebens in den Tag hinein wiederfinden und die rasch auftretenden, durch einen raschen Zufall entstandenen Probleme im Fluge lösen.“

Im Spiel des Zufalls – und damit im Gegensatz zu allem wissenschaftlich exakt Festgelegten – stecken verhüllte Wahrheiten. Diese Suche nach dem Verborgenen steht auch in Jankélévitchs schillernden Essays immer wieder im Vordergrund. Das gilt besonders für Komponisten wie Gabriel Fauré oder Federico Mompou, dessen Musik kaum greifbar erscheint, die nie eindeutig ist und die, wie Jankélévitch es nennt, „in der Atmosphäre vibriert“.

„Mompous Harmonien sind nie absolut konsonant und auch nicht absolut dissonant: Notwendig ist ein Beinahe­Nichts, ein Halbton, eine abweichende Note – und der beinahe­vollkommene Akkord bleibt »unvollkommen«. (…) Es ist sicher angebracht, dieses evasive, nebelhafte, atmosphärische und ein wenig unwirkliche Ich-weiß-nicht-was, das die Musik wie ein Klangkreis oder ein leuchtender Nebel einhüllt, Mysterium zu nennen. […] Mompou unterdrückt nicht nur die Eloquenz, sondern auch Abhandlung und Predigt; wie Debussy versagt er sich die bequemen Weitschweifigkeiten und Erweiterungen.“

Über vierhundert Seiten füllt der neue Band: „Zauber, Improvisation, Virtuosität. Schriften zur Musik“, der nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt und der uns Vladimir Jankélévitch als begeisterten und genau hinhörenden Musikliebhaber zeigt. Damit aber nicht genug: Denn Jankélévitch schreibt mit einer Mischung aus erzählerischer Lust und Präzision, arbeitet mit vielen Bildern und Vergleichen, mit Sprüngen in die Mythologie oder in die Literatur, um seine Beobachtungen auf ein breiteres Fundament zu stellen. Der Franzose schreibt eine Gelehrtenprosa, die nicht belehren, sondern neugierig machen möchte. Der neu übersetze und glänzend edierte Band ist im Berliner Suhrkamp Verlag erschienen. Für 24 Euro erhält der Leser ein intensives Lesevergnügen. Es stiftet an zum genauen Hören, zum Nach- und auch zum Weiterdenken…

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Christoph Vratz