Buchkritik

Sven Regener - Glitterschnitter

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AUTOR/IN
Alexander Wasner

„Glitterschnitter“ heißt in Regeners Roman eine Band. Experimentelle Popmusik mit Bohrmaschine und Eierschneider. Im Dunstkreis von Punk, Freaks, Szene und Hausbesetzungen kämpfen ein paar junge Menschen um das richtige Verhältnis von Faulheit und Selbstverwirklichung. Seit seinem Riesenerfolg „Herr Lehmann“ schreibt Sven Regener, Frontmann der Band „Element of crime“, gut gelaunt und aufgekratzt über Berlin-Kreuzberg in den 80er Jahren. Langweilig wurde das bisher weder dem Autor noch seinen Lesern.

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„Glitterschnitter“ ist der neueste Teil eines durchgeknallten Erzähluniversums

Die große Geschichte, die Sven Regener seit sage und schreibe zwanzig Jahren schreibt - und es hilft, wenn man sie kennt - sie spielt in den 70er bis 90er Jahren: Nach dem Wehrdienst in Bremen - davon erzählt der chronologisch erste Roman: „Neue Vahr Süd“ - kommt ein junger Mann namens Frank Lehmann nach Berlin-Kreuzberg. Er gerät in Künstlerkreise rund um Peter von Immel, kurz P.Immel, und Heinz-Rüdiger, der sich lieber H.R. Ledigt nennt.

Frank Lehmann arbeitet in einem Café und erlebt - das ist die, wenn man es denn wirklich so nennen will, "Handlung" des bekanntesten Regener Romans „Herr Lehmann“ – er erlebt also in einem melancholischen Abschnitt seines Lebens, nämlich in der Nacht zu seinem 30.Geburtstag, den Mauerfall.

Bei der Gelegenheit wird ein Freund seines Bruders, Charlie oder Karl Schmidt verrückt. Dessen Geschichte setzt sich dann in der „Magical Mystery Tour“ fort. In diesem Buch geht es um eine Tournee von Musikern, die in den 90er Jahren Techno und Punk verbinden wollen, taucht an einer Stelle etwas aus dem Vorleben von Karl Schmidt auf: Dass er nämlich mal in einer Band namens Glitterschnitter gespielt hat.

Milchkaffee nach französischer Art - ein Experiment im Café Einfall in Berlin-Kreuzberg

Jetzt also heißt gleich das ganze neue Buch von Sven Regener „Glitterschnitter“. Damit ist klar: Es spielt in Berlin-Kreuzberg in den 80er Jahren. Im Café Einfall probiert man was ganz Neues: Man serviert Milchkaffee nach französischer Art.

„Also wenn schon denn schon unterbrach ihn Frank, wenn wir hier schon Kuchen anbieten, dann brauchen wir auch Milchkaffee, sonst kriegt den doch keiner runter. Den kann man doch nicht mit Bier runterspülen.“
(Sven Regener: Glitterschnitter)

Die Band im Café spielt auch mit Bohrmaschine

Der Einstieg in die Bürgerlichkeit misslingt nicht nur, weil Frank Lehmann Milch dazu nimmt aus diesen kleinen Plastikdingern mit dem Aludeckel, die nie einer aufkriegt, sondern auch weil gleichzeitig eine Band im Café auftreten will. Charlie, ja der aus Magical Mystery Tour, hat extra seine Bohrmaschine mitgebracht.

„Aber es war nicht nur laut, es stieg auch eine Menge Dreck auf. Es war eien ziemliche Sauerei, was Charlie da veranstaltete. Raimund konnte sehen, wie kleine Betonbrocken und Körner auf den Fellen seiner Trommel landeten und dort kleine Tänze und Sprünge vollführten. Das war nicht gut. Raimund hörte auf zu spielen."
(Sven Regener: Glitterschnitter)

Betonkrümel auf der Snare Drum: Sven Regener findet traumhaft sicher wirklich schräge Details der Zeitgeschichte. Frank Lehmann wird langsam den Milchkaffee erst in Kreuzberg, dann in ganz Westberlin durchsetzen. Allerdings gibt es Konkurrenten: Die Leute rund um das Punkercafé Intimfrisur. So heißt ein Café in diesem Roman, nach dem Vorbesitzer, einem Intimfriseur.

Die schrägen Typen dort wollen allerdings gerne ein richtiges Wiener Kaffeehaus gründen, es kann halt nur keiner backen. Dann gibt es einen zweiten Erzählstrang, da geht es um Heinz Rüdiger, also: H.R. Ledigt.

Der Konzeptkünstler H.R. Ledigt fühlt sich von der Musterwohnug bei IKEA angezogen

H.R. ist schon im letzten Roman losgezogen und hat im Baumarkt eine Grabgabel und eine Kettensäge gekauft. Er ist halt Konzept-Künstler. Jetzt, in Glitterschnitter, bleibt er wie hypnotisiert bei IKEA vor der Musterwohnung stehen, und er weiß: Das ist es!

Das ganze Buch ist ein 600 Seiten langer, im Hörbuch zehnstündiger Laberflash, mit unendlichen Sätzen und Denkschleifen und voller mühsam aufzuklärender Missverständnisse. Sven Regener ist der Richtige, diese dauerquirlige Müdigkeit darzustellen: Es ist wieder einmal ein sehr absonderliches, hochkreatives Chaos. Die Insellage Westberlins in den 80ern, eingesperrt in der DDR, tut Ihr übriges.

Vor diesem Hintergrund erzählen Regeners Romane sowas wie eine soziale Utopie im Narrenkäfig Westberlin.

SWR2 Tandem Absurde Komik und lakonische Poesie – Sven Regener wird 60

Sven Regener füllt mit seiner Band "Element of Crime" seit fast 30 Jahren große Konzerthallen. Auch seine Romane treffen das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Christiane Rebmann gratuliert dem Wahlberliner zum 60. Geburtstag.

SWR2 Tandem SWR2

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Alexander Wasner