SWR2 lesenswert Kritik

Susan Choi – Vertrauensübung

Stand
AUTOR/IN
Oliver Pfohlmann

Wer erzählt eine Geschichte? Wem können wir glauben? In Susan Chois Roman „Vertrauensübung" stellen sich auf raffinierte Weise die Erinnerungen gegenseitig in Frage: eine Geschichte über Machtmissbrauch und unangemessene Intimität an einer amerikanischen Eliteschule für darstellende Künste.

Audio herunterladen (4,3 MB | MP3)

Der Titel von Susan Chois neuem Roman „Vertrauensübung“ ist durchaus ernst zu nehmen. Denn um eben dieses flüchtige soziale Bindemittel geht es: Vertrauen. Dem zwischen Schülern und Lehrern. Dem zwischen Darstellern und Publikum. Und nicht zuletzt dem zwischen Autoren und ihren Lesern. Und das alles unter Metoo-Vorzeichen.

Chois Roman besteht aus drei Teilen, die sich gegenseitig in Frage stellen. Der erste und längste ist eine vor Erzähllust und Sprachwitz nur so sprühende Mischung aus Campusroman und Coming-of-Age-Geschichte. Dieser Teil spielt Anfang der achtziger Jahre in einer Großstadt im Süden der USA, an einer Eliteschule für darstellende Künste. In seinem Zentrum stehen Sarah und David, zwei Fünfzehnjährige, die zunächst füreinander bestimmt scheinen. Doch der Rausch der ersten Liebe währt nur kurz. Dass die Beziehung scheitert, hat viele Gründe; einer davon ist Mr. Kingsley, ihr charismatischer Schauspiellehrer, dem sich Sarah eines Abends anvertraut. Was sich als Fehler erweist, denn für Mr. Kingsley sind die Emotionen seiner Schüler und Schülerinnen das Material, um die Jugendlichen zu brechen und neu zu formen. „Ich lasse nicht locker, bis du weinst“, verkündet der zwielichtige Lehrer einmal.

Eine wirklich sonderbare Sexszene

Die libidinösen Energien zwischen Sarah und David sind für den Lehrer unwiderstehlich. Doch die beiden, obwohl längst getrennt, stellen sich stur und sabotieren die sogenannten Vertrauensübungen im Kurs, die an öffentliche Demütigungsrituale erinnern. Am Ende gelingt es Sarah, sich an Mr. Kingsley zu rächen, gerät dann aber in die Fänge eines Nachwuchsschauspielers aus England. Die Sexszene zwischen den beiden dürfte eine der sonderbarsten der Literaturgeschichte sein, ein seitenlanger, großartig erzählter Balanceakt auf der Grenze von Ekel, widerwilliger Lust und unfreiwilliger Komik. Oder ist es doch ein Fall von sexueller Nötigung?

Erzählerin Karen liest den ersten Teil von Susan Chois Roman

Karen, die Erzählerin des zweiten Teils, hat da ihre eigenen Ansichten. Und Erfahrungen. Karen ist im ersten Teil nur eine Nebenfigur – und nach der Lektüre von Sarahs Erinnerungen an ihre gemeinsamen Campuserfahrungen – also dem ersten Teil von Chois Roman – stinksauer. Weil die erwachsene Sarah darin – so Karen – ebenso viel verrät wie verschweigt. Oder auf andere, teils erfundene Figuren, Zitat, „projiziert“. Karen ist der Psychosprech geläufig, da sie diverse Therapien hinter sich hat. Wie psychisch stabil sie inzwischen ist, sei aber dahingestellt; ihr ständiger Wechsel zwischen Erster und Dritter Person deutet zumindest auf ein gewisses Identitätsproblem hin – und auf das Vorliegen einer weiteren unzuverlässigen Erzählerin.

Dieser zweite Teil von Chois Roman spielt anderthalb Jahrzehnte später, Karen arbeitet in ihrer Heimatstadt als Assistentin von David, der ein kleines Avantgarde-Theater leitet. Als aus England ein ehemaliger Gastdozent zu Besuch kommt, um in den USA sein neuestes Stück zu inszenieren, kommt es zu einem dramatischen, am Ende auch blutigen Wiedersehen. Dieser Dozent hat in England gerade Ärger, weil ihm unangemessene Beziehungen zu Schülerinnen vorgeworfen werden. Bestimmt sei aber alles einvernehmlich gewesen, betont David und erinnert an ihre eigenen Schulerlebnisse. Als Karen einwendet, sie seien doch damals Kinder gewesen, lässt die Autorin den erwachsenen David nur verächtlich lachen: „Wir waren doch niemals Kinder.“

Irgendwo zwischen Einvernehmlichkeit und unangemessener Intimität

Mehr soll hier über den Inhalt nicht verraten werden, und auch nicht über den dritten Teil, der alle scheinbaren Gewissheiten ein weiteres Mal umwirft und den Leser, die Leserin mit vielen Fragen – und noch mehr düsteren Vermutungen – zurücklässt. Die Autorin besuchte einst in den Achtzigern selbst eine solche Eliteschule in Houston; wohl auch deshalb erscheinen Figuren und Details des Romans so überzeugend. In den USA hat die 54-Jährige mit ihrem bislang fünften Roman den „National Book Award“ eingeheimst; man kann verstehen, warum: „Vertrauensübung“ ist eine sprachlich eindrucksvolle, überaus raffinierte Meditation über Wahrheit und Erinnerung, Realität und Fiktion, Macht und ihren Missbrauch. Und nicht zuletzt ist Chois Roman eine mutige Reise in die dunklen Gewässer zwischen Einvernehmlichkeit und unangemessener Intimität.

Stand
AUTOR/IN
Oliver Pfohlmann