Buchkritik

Omri Boehm und Daniel Kehlmann – Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant

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Frank Hertweck

Zum 300. Geburtstag des großen Philosophen Immanuel Kant haben sich Daniel Kehlmann und Omri Boehm über den Königsberger Meisterdenker unterhalten: tiefsinnig, unterhaltsam, ganz gegenwärtig.

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So kann es einem ergehen, der zum ersten Mal Kant liest:

„Vor lauter Klammern und Fußnoten verstand er kein Wort, und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopf. Als er nach einer halben Stunde erschöpft aufhörte, war er nur bis zur zweiten Seite gelangt, und Schweiß stand auf seiner Stirn.“

So lässt es Robert Musil seinem Helden Törleß ergehen, als dieser sich im Internat freiwillig an Kants Philosophie wagt.

Daniel Kehlmann und Omri Boehm agieren dagegen mit erstaunlicher Leichtigkeit im schwergewichtigen Kant-Kosmos. Kehlmann wollte über Kants Ästhetik promovieren, als ihm die Schriftstellerkarriere dazwischenkam. Kant blieb dann nur die Rolle des dementen Philosophen in Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“. Vielleicht ist jetzt dieses neue Buch ja eine kleine Wiedergutmachung?

Der Philosoph Omri Boehm wiederum hat in seinem Werk „Radikaler Universalismus“ das Potential des Königsberger Denkers für unsere heutigen Debatten neu justiert.  

Wie funktioniert Kants Philosophie heute?  

Zwei Tage im Mai haben die beiden über Kant geredet, mit dem klaren Anspruch, keine schönfärbende Würdigung zu verfassen, sondern auszuloten, wie Kants Philosophie funktioniert.

„Wir weisen Kant keine Stelle zu, wir würdigen ihn nicht, und wir sprechen auch nicht von „der Gegenwart“, sondern von uns. Wir versuchen, Kant aus seinen eigenen historischen Voraussetzungen zu verstehen und zugleich ein Bild davon zu gewinnen, wie er uns dabei helfen kann, weiterzukommen auf jenem langen Weg, an dessen Ende wir hoffen dürfen, das zu sein, für das wir uns in voreiligen Momenten jetzt schon halten, eine Gemeinschaft denkender und freier Menschen.“

Natürlich kann ein Gesprächsband keiner systematischen Linie folgen, aber die großen Themen werden angesprochen: Kant, biographisch, die Verortung in der Philosophiegeschichte - Stichworte: Leibniz, Spinoza, David Hume. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis in der „Kritik der reinen Vernunft“, die Konsequenzen für den Glauben an einen Gott, die Ästhetik Kants in der „Kritik der Urteilskraft, die Moralphilosophie der „Kritik der praktischen Vernunft.“

Ihr ist auch der Titel entnommen: „Der bestirnte Himmel über mir“. Aber die eigentliche Pointe steckt im zweiten Teil des Satzes:

„Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Sie besteht darin, dass das Gefühl der erhabenen Unendlichkeit des Himmels, das uns zu kleinen Menschlein macht, konterkariert wird von der einzigartigen Fähigkeit des Menschen, moralisch handeln zu können. Und das heißt nach Kant überhaupt frei handeln zu können. Genau in dieser Fähigkeit ist auch die Würde des Menschen verborgen. Eine Würde, daran erinnern Boehm und Kehlmann, die einem nicht einfach nur zugehört, sondern die erworben werden muss.

Kehlmann und Boehm sehen in Kant einen Aufklärer der Aufklärung  

Daniel Kehlmann zitiert zustimmend den leider viel zu unbekannten österreichischen Dichter Jura Soyfer:

„Ihr nennt uns Menschen, wartet noch damit.“

Kant ist für die beiden Gesprächspartner ein Aufklärer der Aufklärung. Das bedeutet, die Träume, mit der Vernunft die Welt vollständig verstehen zu können, sind mit Kant ausgeträumt. Sein Ziel: klar zu definieren, was wir wissen können. Und was nicht. Oder in Kants berühmten Worten aus der „Kritik der reinen Vernunft“:

„Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“

Unsere Vernunft hat also Grenzen. Und diese Grenzen werden durch Denkmechanismen bestimmt, die uns alle prägen. Ohne diese Strukturen in unserem Kopf können wir keine Strukturen da draußen in der uns zugänglichen Welt erkennen.

Die überraschende Folgerung: Wenn wir wissen, was wir wissen können, dann gibt es auch ein Wissen davon, was wir nicht wissen. Und somit Platz für metaphysische Spekulationen, für den Glauben.

Kant und das Gespräch über die Kunst

Und – das ist Daniel Kehlmann ganz wichtig – somit auch Platz für die Kunst.

„Es geschieht, dass der eigentlich primär nicht besonders kunstinteressierte Professor Immanuel Kant das wichtigste Werk der Kunsttheorie überhaupt schreibt.“

Nämlich die „Kritik der Urteilskraft“ mit dem faszinierenden Gedanken:

„Es gehört zur Kunst, dass wir ein unendliches Gespräch führen …“

Warum? Weil das Urteil über Kunst ein Geschmacks-Urteil ist. Aber das ist nach Kant nie nur subjektiv, sondern zugleich ein allgemeines Urteil. Das heißt: wir wollen, dass uns die anderen in unserem Urteil folgen, wenn wir etwas als schön erkennen. Darum müssen wir mit ihnen reden, wir müssen argumentieren. Und so kommt eben auch der Verstand mit ins Spiel.

War der Königsberger Philosoph ein Rassist?

Aber was ist mit dem Vorwurf, den wir in den letzten Jahren gehört haben, Kant sei ein Rassist gewesen? Auch hier fällt Daniel Kehlmann ein klares Urteil über Kants Menschenlehre:

„Ich würde die Anthropologie gar nicht zum philosophischen Werk zählen. Eigentlich wäre der korrekte Titel: „Verstreute Meinungen und Vorurteile des älteren Herrn Professor Kant.“

Es ist Kant selbst, der die Kriterien liefert, mit denen Kant kritisiert werden kann. Was in seiner Anthropologie, seiner Lehre vom Menschen, an Vorurteilen, abwertenden und rassistischen Bemerkungen fällt, gehört der Welt der Erscheinungen an, dem, wie Kant es nennt „empirischen Ich“. Hier wird geirrt, Falsches behauptet, korrigiert, überprüft.

Sein philosophisches Werk, das ist der gewaltige Anspruch Kants, ist von Empirie frei. Weil es sich darum kümmert, wie wir überhaupt die Dinge da draußen erkennen können.

Ein anregender und lebendiger Dialog auf Augenhöhe

Die entscheidende Frage ist für Kehlmann und Boehm eine andere: Ist Kant ein Propagandist westlicher Denkweisen? Inwieweit ist das, was er als universelle Grundmuster unseres Denkens bestimmt hat, gar nicht für alle Menschen gültig, sondern nur für uns, für unsere Tradition, unsere Kultur? Die Antwort ist offen.

Dass Immanuel Kants „Kritiken“ manchmal schweißtreibend sein können, wird niemand bestreiten, der sie gelesen hat – und nicht nur beim ersten Mal. Aber Daniel Kehlmann und Omri Boehm haben einen Gesprächsband vorgelegt, der Schwierigkeiten nicht weg redet, komplizierte Dinge nicht banalisiert und im besten Sinne einen anregenden Dialog bietet: kenntnisreich, lebendig, geistesgegenwärtig und auf Augenhöhe.

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