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Moritz Holzgraefe, Nils Ole Oermann – Digitale Plattformen als Staaten. Legitimität, Demokratie und Ethik im digitalen Zeitalter

Stand
AUTOR/IN
Thomas Moser

In ihrem Buch widmen sich Moritz Holzgraefe und Nils Ole Oermann den Machtkonflikten zwischen Staaten und Plattformen.

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Sie zeigen, dass bestehende Gesetze angesichts der disruptiven Kraft der Digitalisierung kaum Schutz bieten, und erarbeiten eine Reihe von Lösungsvorschlägen für eine der größten Herausforderungen für unsere freiheitliche Gesellschaft.

Im Juni 2020 kam es zu einem geheimen Corona-Gipfel von Bundesinnenministerium und den technologischen Plattformunternehmen Google und Meta-Facebook. Die Bundesregierung suchte deren Mithilfe bei der Verhinderung von „Fehl-, Falsch- und Desinformationen“ zu Corona, der die Konzerne dann mit massenhaften Löschungen von Einträgen und Videos auch nachkamen.

Die Plattformen wurden zu Schiedsrichtern zwischen Meinungsfreiheit und privater Zensur gemacht, und das, ohne mit demokratischer Legitimation ausgestattet zu sein. Die Autoren nennen den Vorgang „besorgniserregend“. Er untergrabe auch das Vertrauen in den Staat und verwässere dessen demokratische Legitimation.

Der Fall steht stellvertretend für das besondere wie ungeklärte Spannungsverhältnis zwischen Konzernen des Big Tech und den nominell demokratischen Staaten, das im Buch von verschiedenen Seiten beleuchtet wird.

Bei den Kooperationen, wie beispielsweise der Verwendung einer Software von Microsoft in der Bundesverwaltung, handelt es sich genau betrachtet eher um Abhängigkeiten der Staaten von den Plattformen und ihren Konditionen. Tatsächlich überwiegen Interessenskonflikte – von einem „Machtkampf“ sprechen die Autoren gar, und wörtlich:

Die Macht der Plattformen stellt einen täglichen Härtetest der staatlichen Autorität dar.

Der Gegensatz ist immanent und permanent, denn IT-Konzerne sind kapitalistische Wachstumsunternehmen, die miteinander in Konkurrenz stehen und Profite erwirtschaften müssen. Ihre Macht ist eine Datenmacht und entspringt ihrem Geschäftsmodell: Sie verbinden Nutzer und Anbieter miteinander. Facebook wird monatlich von etwa drei Milliarden Menschen genutzt.

Auf dem Weg zu „virtuellen Staaten“?

Für die Autoren sind die Plattformen an Einfluss und Relevanz mit Staaten vergleichbar: „Virtuelle Staaten“, wenn auch ohne demokratische Mitbestimmung. Eher Königreiche in Silicon Valley, der Heimat der Big Techs, mit „wohlmeinenden Diktatoren“ an der Spitze.

Das Bild von den „Plattformen als Staaten“ ist aber nicht wirklich treffend: Sie bleiben private Großkonzerne. Eher verändern sie umgekehrt die Staaten und deren Machtmonopol. Sind die überhaupt noch in der Lage, auf die Big Tech-Konzerne einzuwirken und sie ihren Regeln zu unterwerfen?

Big Tech: Eine Macht ohne Land

Die Konstellation ist geschichtlich betrachtet nicht wirklich neu. Digital-Konzerne stehen für eine Art kapitalistische Entwicklung im Schnelldurchlauf. Die Autoren ziehen auch Parallelen zur Zeit der industriellen Revolution. Neu ist allerdings die fehlende Raumbindung – geografisch und politisch.

Was den Digital-Konzernen fehlt, ist das Territorium. Auf der Suche nach „Land“ wird zum Beispiel die Schaffung künstlicher schwimmender Inseln auf dem Meer in staatenlosem Gewässer diskutiert. Eine andere Überlegung ist, Silicon Valley zu einem eigenständigen US-Bundesstaat zu machen.

Jedenfalls: Die virtuelle Welt stellt eine Bedrohung dar für die Demokratien westlichen Zuschnitts. Die Plattformen sind ein Risiko für den Territorial-Staat. Wenn er deren Macht nicht einschränken kann, ist in den Augen der Autoren letztlich sogar die Frage seiner Souveränität aufgeworfen.

Die Auseinandersetzung werde zu einer Neuinterpretation der klassischen Staatsdefinition führen. Big Tech schafft eine neue globale Ordnung – was auch zu einer Neubestimmung des öffentlichen Raumes führen wird. Die Autoren spitzen die Entwicklung in der Fragestellung zu: Treten IT-Konzerne an die Stelle von Regierungen?

Die Machtkoordinaten verschieben sich zu Gunsten der Big Tech-Konzerne

Die Autoren sind Sachkenner und waren unter anderem für Unternehmen und die Bundesregierung tätig. Ihre Perspektive ist real-politisch und konservativ intendiert. „Staatliche Plattformen“ lehnen sie zum Beispiel ab.

Am Ende unterbreiten sie eher hilflose Lösungsvorschläge, tatsächlich ist ihr eigenes Fazit widersprüchlich: „Wie geht es mit den digitalen Plattformen weiter? Die Antwort darauf ist mit großer Unsicherheit behaftet“, schreiben sie. Die Tendenz, die sie ausführlich darstellen, heißt aber: Die Machtkoordinaten verschieben sich unaufhaltsam zu Gunsten der Big Tech-Konzerne.

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