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Michel Pastoureau – Alle unsere Farben. Eine schillernde Kulturgeschichte

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AUTOR/IN
Roman Kaiser-Mühlecker

Vom „verfluchten Grün" bis zur „Farbe der DDR": Der Farbhistoriker Michel Pastoureau verbindet persönliche Erinnerungen mit der faszinierenden Geschichte der Farbgebung und Farbwahrnehmung.

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Franz Schubert hegte eine lebhafte Abneigung gegen die Farbe Grün. „Bis ans Ende der Welt“ würde er gehen, meinte er einmal, „um der verfluchten Farbe zu entfliehen“.

Der Komponist war mit seiner Phobie nicht alleine. Im Theater hielt sich lange Zeit die Überzeugung, Grün bringe Unglück. Ein Aberglaube, dem möglicherweise eine reale Begebenheit zu Grunde lag: Zu Beginn des 17. Jahrhunderts verwendete man in Spanien und England giftigen Grünspan, um Kostüme und Bühnenbilder einzufärben. Mehrere Schauspieler starben, nachdem sie auf der Bühne grün getragen hatten.

Später färbte man mit Arsen. Das war auch nicht viel besser. Napoleon ließ sich die Wände seines Hauses auf Sankt Helena grün streichen. Seit Jahrzehnten wird darüber spekuliert, ob der gestürzte Kaiser in seinem Exil nicht an seiner Lieblingsfarbe gestorben sei.

Die Geschichte des „verfluchten“ Grün ist nur eines der zahlreichen Schlaglichter, die Michel Pastoureau in seinem Buch „Alle unsere Farben“ auf die wenig bekannte Geschichte der Farbgebung und Farbwahrnehmung wirft. Der Franzose gilt als weltweit führender Experte auf diesem Gebiet. Seine Bücher über die Primärfarben wurden in Dutzende Sprachen übersetzt.

Anders als diese ist „Alle unsere Farben“ keine strenge Abhandlung, sondern ein frei arrangiertes Erinnerungsbuch. In loser Anlehnung an Georges Perecs „Je me souviens“ blickt der Mittelalterhistoriker auf seinen Werdegang zurück, und verbindet persönliche Erlebnisse mit der Kulturgeschichte der Farben. Wir erfahren, wie ausgerechnet die unbeliebte Farbe Gelb auf der Tour de France zu Ehren kam, warum junge Mädchen in den 50er-Jahren wegen roter Hosen vom Unterricht ausgeschlossen wurden, und weshalb die Levi’s 501 in den 70er-Jahren nur in einem einzigen Blauton wirklich cool war.

Pastoureau führt uns an den Set von „Der Name der Rose“, wo der Farbberater des Regisseurs entsetzt rosa Schweine erblickt. Dabei gab es im Mittelalter in Europa doch nur schwarze und graue Schweine! Amüsiert folgt man den Beschreibungen „abgrundtief hässlicher Farbtöne“, darunter ein rätselhaftes „Braungrauviolett“, das der Autor als Farbe der DDR identifiziert, oder das an „verdorbenen Senf“ erinnernde „Mitterrand-Beige“, das auf einen Mantel des französischen Präsidenten zurückgeht.

Farben und ihre Wahrnehmung, lernen wir auf Pastoureaus Streifzug, sind nicht zeitlos, sondern kulturell veränderlich. Im antiken Griechenland gab es zum Beispiel kein eigenes Wort für die Farbe Blau. Auch die alten Römer schätzten die heutige Lieblingsfarbe Europas wenig. Als Augenfarbe galt sie bei Frauen „als Beleg liederlichen Lebenswandels, bei Männern als Zeichen ihrer Lächerlichkeit.“

Pastoureau warnt vor ahistorischen und ganz besonders vor ethnozentristischen Interpretationen. In vielen Gesellschaften Afrikas etwa ergeben westliche Zuschreibungen wenig Sinn, weil Farben dort auch einen stofflichen und kontextabhängigen Charakter aufweisen: Eine Farbe kann trocken oder feucht sein, weich oder hart, rau oder glatt. Keine Farbwahrnehmung, betont der Mediävist, steht kulturell über einer anderen.

Als Pastoureau mit seinen Forschungen begann, wurde er vielerorts belächelt. Die historische Beschäftigung mit Farben galt als kurioses, wenig ernstzunehmendes Hobby. Das traf in gewisser Weise sogar auf die Kunstgeschichte zu, die sich an Schwarz-Weiß-Kopien abarbeitete, und die Analyse des „Stils“ in den Vordergrund rückte. Dazu kam, dass Pastoureau keinen anderen Grund für seine Forschung anführte, als jenen, dass sie ihm Freude bereitete – in den 70ern an französischen Universitäten fast schon eine Frivolität.

Trotz der vielfach ausgezeichneten Pionierarbeiten des Autors ist die Geschichte der Farben nach wie vor ein wenig bearbeitetes Feld voller offener Fragen. „Alle unsere Farben“ ist weniger Einführung als viel mehr Einladung in dieses faszinierende Wissensgebiet. Darüber hinaus entpuppt sich das schöne und selbstironische Erinnerungsbuch als verblüffende Schule des Sehens, die sensibel macht für Nuancen.

Aus dem Französischen von Andreas Jandl
Wagenbach Verlag, 240 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-8031-3725-8

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Roman Kaiser-Mühlecker