Buchkritik

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff

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AUTOR/IN
Carsten Otte

St. Petersburg in Zeiten der bolschewistischen Repression: Die vierzehnjährige Anouk wird zusammen mit ihrer Familie auf ein Schiff verfrachtet. Auf Befehl von Lenin sollen sie und andere Intellektuelle ins Exil verbannt werden. Tagelang treibt das Schiff auf dem offenen Meer, als schließlich ein letzter Passagier an Bord gebracht wird: Lenin selbst. Anouk lernt den Revolutionär als kranken Mann kennen, der nun seinerseits Opfer diktatorischer Machenschaften wird. Eine berührende, politisch hellsichtige Parabel auf die Politik des Terrors.

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Die schier unglaubliche Geschichte wird im Rückblick erzählt: Anouk Perlemann-Jakob ist mittlerweile hundert Jahre alt, schaut auf ihr Leben als erfolgreiche Architektin, aber auch auf eine bedrückende Familiengeschichte zurück. Im hohen Alter lernt sie einen Schriftsteller kennen, der ihre dritte Biografie schreiben soll. Sie möchte endlich von bedeutsamen Erlebnissen berichten, die sie aber bislang verschwiegen habe. Die alte Dame hält den Autor zwar für einen …

„… Schriftsteller, dem man nicht glaubt, was er schreibt.“ 

Was aber kein Problem ist. Im Gegenteil.

„Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser.“

Spiel mit Autofiktion

Der Schriftsteller ist unsicher, ruft seine Frau Monika an – und die ist empört. Ob die Auftraggeberin zumindest ein gutes Honorar in Aussicht gestellt habe, will die Gattin wissen. Doch über Geld wurde nicht gesprochen.

Gewitzt klärt Michael Köhlmeier auf den ersten Seiten seines neuen Romans „Das Philosophenschiff“ nicht nur die Erzählsituation, sondern spielt durch den Verweis auf Monika Helfer auch gleich mit dem Genre der Autofiktion – so wie es übrigens Helfer auch in ihren eigenen Romanen zuletzt getan hat. Das schreibende Ehepaar kommuniziert nicht nur über Bücher, sondern auch in den jeweiligen Werken miteinander über die Fallstricke der Fiktion. Anouk Perlemann-Jakob möchte also ausgerechnet einem Autor, von dem sie annimmt, dass niemand ihm glaubt, eine wahre bzw. ihre wahre Geschichte erzählen. Und die beginnt 1922 in St. Petersburg.

„Es war Bürgerkrieg. Und ein Bürgerkrieg ist immer auch ein Krieg der Armen und Ungebildeten, der Dummen und Bösartigen gegen die Intelligenzija. Zur Intelligenzija gehörte, wer nicht schwitzte, nicht stank und seine Arbeit im Sitzen tat. Das traf auf meine Eltern zu.“

Köhlmeier lässt die hochbetagte Anouk sehr anschaulich von der Vergangenheit berichten, vom „Hungermundgeruch“ der Menschen, von den Versuchen, inmitten des Elends – nämlich draußen im Park – kleine Momente der Freiheit, des Glücks und der Schönheit zu erleben.

„Da hat man einen ganzen Nachmittag lang getanzt, jeder mit jedem, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, Frauen mit Männern sowieso (…) alle Kombinationen. Sogar einen Hund habe ich gesehen, der hat mit seinem Frauchen getanzt.“

Heilige Gewalt und Märtyrertod

Auf dem Heimweg seien die tanzerprobten Füße dann über Leichen in der Straße gestiegen, verhungerte oder ermordete Menschen. Die Bolschewisten kennen keine Gnade. Überall lauern Spitzel, überall werden Feinde der Revolution vermutet. Auch sie, Anouk, habe früher von „heiliger Gewalt und Märtyrertod geträumt“. Jetzt aber herrsche blinder Terror. Insofern kann ihre Familie noch froh sein, als Lenins Schergen den unmissverständlichen Befehl erteilen, die Sachen zu packen.

„Sie sagten, wir müssen Russland verlassen. Man wird uns nichts tun. Aber wir müssen gehen. Es sei ein Entgegenkommen der Regierung. Eine Art Gnade der Regierung. Eines Tages würden wir es verstehen und dankbar sein.“

Der Roman, der von Ereignissen handelt, die vor über 100 Jahren angesiedelt sind, hat eine schreckliche Aktualität. Das betrifft nicht nur die gefährliche Rede von der angeblich „heiligen“ Gewalt von Mördern, die als „Märtyrer“ verklärt werden, sondern bezieht sich generell auf Terror und Vertreibung als politisches Mittel. Anouk und ihre Eltern müssen ihre Besitztümer zurücklassen und werden auf ein Schiff verfrachtet. Noch glauben sie nicht, dass sie lange überleben werden. Es sind nicht viele Passagiere an Bord des hochseetauglichen und gut ausgestatteten Schiffs, aber alles Leute, die als Feinde der proletarischen Revolution gelten.

„Intellektuelle. Philosophen. Wissenschaftler. Ein Architekt. Künstler. Unser Luxusdampfer war ein Philosophenschiff.“

Die sogenannten Philosophenschiffe hat es tatsächlich gegeben, wie eine Ausstellung in Moskau unlängst zeigen durfte. In Köhlmeiers Roman aber geschehen seltsame, gewiss erfundene Dinge: Denn das Schiff treibt einige Tage auf dem Meer herum, bis sich ein weiteres Boot nähert und ein geheimnisvoller Gast an Bord gebracht wird. Weil nun eine Zeitlang wieder nichts passiert, klettert die neugierige Anouk heimlich aufs Sonnendeck in der 1. Klasse. Dort sieht sie einen einsamen Mann im Rollstuhl. Sie beobachtet ihn, doch er entdeckt das Mädchen und fragt sie aus. Wie sie heiße, was die Eltern täten und warum sie auf dem Schiff seien.

„Ich sagte: Der Lenin hat es befohlen. (…) Und da sagte er es: Der Lenin, das bin ich. Ich bin der Lenin. Lenin bin ich. Und ich glaubte ihm.“

Die schreckliche Aktualität des Leninismus

Zwischen der kleinen Anouk und Lenin entwickelt sich ein bizarr-berührendes Gespräch über die Revolution, Mathematik, über Bauern und Bücher. Köhlmeier kostet die Szene aus, spannt das lesende Publikum auf die Folter, indem er immer wieder in die Gegenwart zurückspringt, in der die alte Anouk dem erstaunten Schriftsteller aus der Vergangenheit erzählt.

Köhlmeier bleibt allerdings nicht bei der doppelten und clever gespiegelten Gesprächssituation, er nutzt sein Alter Ego auch, um das epochenübergreifende Thema des Romans zu entfalten. Lenins Terrorpolitik jedenfalls sollte noch Generationen später viele Nachahmer finden: Anouks Mitarbeiterin in den USA war mal Mitglied der militanten Untergrundorganisation „Weathermen“. Der nicht nur zuhörende, sondern längst recherchierende Biograf erinnert sich zudem an den Studienfreund Carlo aus dem Kommunistischen Bund, der von seiner Genossin Gerlinde eigentlich hätte liquidiert werden sollen. So lautete der Auftrag des Führungsoffiziers. Sie hätten Stalinismus gespielt, sagt Carlo Jahrzehnte später, als wolle er die Taten bagatellisieren. Kurioserweise wäre Lenin bereits 1918 beinahe Opfer eines Attentat geworden. Die Anarchistin Fanny Kaplan schoss auf Lenin, der sich von dem Anschlag tatsächlich nicht mehr so recht erholen konnte.

Von der Macht, den politischen Gegner umzubringen, ließ sich selbst der kranke und offenbar unbelehrbare Revolutionär noch berauschen – jedenfalls in Köhlmeiers historischer Fiktion, im Zwiegespräch von Anouk und Lenin.

„Er wollte mir erklären, was Macht ist. Ob ich es wissen will. Nicht unbedingt, sagte ich. Wenn ich herumfrage, was Macht bedeutet, sagte er, dann werde ich verschiedene Antworten bekommen, Antworten von den gescheiten Philosophen, die so dumm sind. Die Macht zu gestalten, die Macht, das richtige zu tun, die Macht, einen Staat zu lenken. Und so weiter. Das werden sie sagen. Alles Ausreden. Es gibt nur eine Macht. Die Macht zu töten. Von ihr leitet sich alle andere Macht ab. Die Macht, über ein Leben zu entscheiden. Ob ja oder nein. Über tausend Leben zu entscheiden. Ja oder nein.“

Was als Spiel mit dem biografischen Erzählen begann, endet bitterernst. Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophenschiff“ könnte daher als Abgesang auf die literarische Mode der Autofiktion gelesen werden, zumindest als Aufforderung, sich auch in der Literatur wieder intensiver mit drängenden Themen, etwa mit den Gefahren ideologischer Radikalisierung und des politischen Terrorismus zu befassen.

Literarische Könnerschaft

Mit dem „Philosophenschiff“ schließt Köhlmeier sowohl stilistisch als auch inhaltlich an seine historischen Romane an, etwa „Abendland“ und „Matou“. Im Mittelpunkt dieser als politische Parabeln angelegten Texte stehen immer die Gewaltfrage und der Versuch, die Hybris der aggressiven Figuren mit den Mitteln der literarischen Kunst einzuhegen.

Michael Köhlmeier ist ein wahrhaft humanistischer Schriftsteller; statt einer Revolution ist er der Aufklärung verpflichtet, die nicht zuletzt im Erzählen das Reich der Freiheit erkundet. „Das Philosophenschiff“ bleibt, obwohl nur wenig passiert, bis zuletzt spannend. Präzise sind die Dialoge, verspielt die längeren Prosapassagen. Köhlmeier beweist auch mit diesem Buch seine literarische Könnerschaft.

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