Buchkritik

Hans Platzgumer – Großes Spiel

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AUTOR/IN
Oliver Pfohlmann

Ein Hauptmann und ein Anarchist, eine Gesellschaft im Umbruch und ein verheerendes Erdbeben: Das sind die Zutaten für Hans Platzgumers historischen Roman „Großes Spiel" über den zeitlosen Wert politischen Engagements.

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Geologische und politische Beben

Im Japan des frühen 20. Jahrhunderts schwankt der Boden. Und zwar bildlich ebenso wie wörtlich. 1923, also vor genau einhundert Jahren, legt das sogenannte Kanto-Beben die japanische Hauptstadt in Schutt und Asche, über einhundertausend Menschen sterben.

Dem geologischen Beben folgt aber noch ein politisches – weil Nippons Eliten das allgemeine Chaos nutzen, sich unliebsamer Oppositioneller zu entledigen. Die herrschende Klasse fühlt sich bedroht, sogar aus zwei Richtungen. Von unten vom Volk, das von Sozialisten und Anarchisten aufgestachelt wird. Und von oben: Denn auch der gottgleiche Kaiser höchstselbst träumt von der Erneuerung der japanischen Gesellschaft.

Heute, da mir die gesamte Existenz unverständlich geworden ist und ich anerkennen muss, wie alles aus den Fugen geraten ist, im Rückblick darf ich mich an diese Frage erinnern, die in mir schwelte: Auf welcher Seite stand der Kaiser tatsächlich? Waren er und seine Gattin in ihrer Harmoniesucht nicht aufwieglerischen Ideen näher als den Traditionen? Standen sie mit ihrem neumodischen, weichen Denken nicht dem Revolutionären näher als dem Konservativen?

Die Geschichte eines vergeudeten Lebens

Der Ich-Erzähler von Hans Platzgumers historischem Roman „Großes Spiel" ist jener Mann, der sich damals dafür verantwortlich fühlte, Japans Traditionen mit allen Mitteln zu verteidigen: Hauptmann Amakasu Masahiko, als Offizier der Militärpolizei eine schillernde Figur der japanischen Geschichte – heute müsste man ihn wohl als Vertreter des Deep State, des Staates im Staate, bezeichnen.

In der deutschsprachigen Literatur ist Amakasu durchaus kein Unbekannter; schon in Christian Krachts Roman „Die Toten" von 2016 hatte er seinen Auftritt. In Platzgumers „Großes Spiel" hält der Offizier am Ende seines Lebens, erschüttert von der bedingungslosen Kapitulation Japans 1945, eine bittere Rückschau.

Dabei erinnert der Roman mit seinem Grundton von Vergeblichkeit in seinen besten Momenten an die Werke Kazuo Ishiguros. Denn auch hier wird die Geschichte eines vergeudeten Lebens erzählt, voller Selbsttäuschungen und Lebenslügen.

Ich will mich an diesem heutigen Tag weder rühmen, noch will ich mich schämen müssen. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht umkehren. Und am Ende gibt es den Tag, an dem alles einfach vorübergeht."

Zweifel am Bestehenden

„Großes Spiel" erzählt nicht nur von dem Offizier, sondern auch von einem Aktivisten namens Ȏsugi, den Amakasu jahrelang überwachen muss. Nach dem Erdbeben werden Ȏsugi und seine Frau vom Ich-Erzähler verhaftet; dann lässt er das Paar foltern und ermorden, zum Wohle Japans. Schließlich verkörpert Amakasus Kontrahent mit seiner Leidenschaft, seinem Utopismus alles, was der Ich-Erzähler verachtet, nämlich die Absage an Japans überlieferter Ordnung.

Doch führt schon die jahrelange Beobachtung dazu, dass der Offizier längst Respekt vor dem Mut und der Lebensfreude seines Gegners empfindet. Bis er anfängt, selbst am Bestehenden zu zweifeln – und sich im entscheidenden Moment wie gelähmt fühlt.

Ich war allein mit meinen wirren, unfertigen Gedanken. In mir kämpften ein Mensch, ein Militär und ein Mörder gegeneinander. Jahrelang hatte ich auf den Moment hingearbeitet (…). Heute, im Rückblick, weiß ich, dass ich nicht standhaft genug für eine derartige Aufgabe war. Ich kannte zwar Ȏsugi, mich selbst aber erkannte ich nicht als das an, was ich wirklich war. Dazu bin ich erst heute bereit, 22 Jahre später."

Die Grausamkeiten der autoritären Regime

Das Aufeinandertreffen von Offizier und Aktivist im Gefängnis, Ȏsugis Verhör und Amakasus Konflikt, sind überaus packend erzählt. Dieser erzählerische Höhepunkt entschädigt dafür, dass Platzgumers genau recherchierter Roman erhebliche Längen hat. Sie sind vor allem den langatmigen Ausführungen des Ich-Erzählers geschuldet – wer will, mag Amakasus Umständlichkeit psychologisch deuten, als wolle er so sein selbstgewähltes Ende hinauszögern.

Allerdings lässt ihn der Autor auch erheblich mehr wissen, als er legitimerweise wissen kann, selbst als Geheimdienstler, bis hin zu den intimsten Gedanken des Kaisers. Solche Schwächen sind umso bedauerlicher, als Platzgumers Roman trotz des hierzulande wenig bekannten historischen Stoffes von einiger Aktualität ist: So erinnert „Großes Spiel" eindringlich daran, wie grausam auch und gerade heute autoritäre Regime mit ihren Oppositionellen umgehen.

Zugleich aber erzählt Platzgumers Roman vom zeitlosen Wert gesellschaftlichen Engagements – gerade gegenüber den Amakasus unserer Tage.

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